drugcom: Viele unserer drugcom-Nutzer fragen sich: Macht Kiffen verrückt? Wie hoch ist das Risiko, zu erkranken? Was passiert im Gehirn? Gibt es sogar frühe Anzeichen einer Gefährdung? Zur Beantwortung der Fragen bin ich bei Frau Dr. Jockers-Scherübl, Chefärztin der Psychiatrischen Klinik Hennigsdorf in Brandenburg. Ihr Forschungsschwerpunkt ist Schizophrenie und Cannabis. Frau Dr. Jockers-Scherübl, Sie sind ausgebildete Verhaltenstherapeutin und im Vorstand des Therapieladens, in dem schon seit 1985 Cannabispatienten ambulant behandelt werden. Sie haben also einen großen Erfahrungshintergrund. Bevor wir in das Thema Cannabis näher einsteigen, möchte ich gern wissen, was es mit einer Psychose auf sich hat. Eine Psychose ist eine schwerwiegende Erkrankung und auch schwer zu erklären. Wie würden Sie erklären, was eigentlich eine Psychose ist und was sie kennzeichnet?
Dr. Jockers-Scherübl: Der Begriff Psychose ist ein Überbegriff und er definiert mehrere Erkrankungen, bei denen ein bestimmter Realitätsbezug verlorengegangen ist. Es kann eine Schizophrenie sein oder ein manisches Syndrom im Rahmen einer bipolaren Erkrankung. Es kann auch im Rahmen einer psychotischen Depression sein, also eine so genannte wahnhafte Depression, wo auch bestimmte Realitätsbezüge nicht mehr da sind, oder es kann auch eine Intoxikationspsychose sein, z. B. mit Drogen. Es gibt noch andere Varianten, aber für junge Menschen sind dies die Hauptmöglichkeiten. Wichtig ist: Wenn man sagt, jemand ist psychotisch, dann heißt das, derjenige nimmt bestimmte Realitäten für sich selbst als gegeben, ohne sie nochmal zu hinterfragen, die aber für andere Menschen nicht unbedingt realitätsgemäß sind, zum Beispiel, wenn jemand glaubt, die Mafia oder die Stasi oder der Nachbar oder wer auch immer habe etwas gegen ihn und verfolge ihn. Dann gibt es die Möglichkeit, das nochmal zu überprüfen oder es gibt die wahnhafte oder psychotische Möglichkeit, das ohne jegliche Überprüfung als wahr und gegeben hinzunehmen – egal, ob es für andere Menschen Zeichen oder Belege dafür gibt. Also der Wahn ist eine unverrückbare Überzeugung, die keiner realitätsnahen Beweise bedarf.
Drugcom: Sie erwähnten auch das Stichwort Intoxikationspsychose. Es gibt ja zwei verschiedene Theorien im Zusammenhang mit Cannabis und Psychose. Die eine Theorie besagt, dass die Psychose direkt durch Cannabis verursacht wird, die andere Theorie besagt, dass Cannabis der Auslöser ist, der zum Ausbruch der Psychose führen kann. Wie sehen Sie das?
Dr. Jockers-Scherübl: Wenn Sie zum Beispiel jemanden mit einem psychotischen Syndrom vor sich haben – sehr viel häufiger ist es ein junger Mann als eine junge Frau – der kurz zuvor Cannabis konsumiert hat, gibt es mehrere Möglichkeiten. Dann kann es entweder sein, dass es eine Intoxikation ist, bei der es durch die Substanz Cannabis – und der Hochregulierung von Dopamin – zu einer Überflutung des Gehirns mit diesen Botenstoffen kommt und Dinge dann plötzlich wahrgenommen und bewertet werden, die sonst nicht so wahrgenommen werden. Wenn die Wirkung des Cannabis abflaut, kann sich die Wahrnehmung innerhalb kurzer Zeit (wenige Tage bis 1 Woche oder auch kürzer) wieder normalisieren. Dann spricht man von einer Intoxikation bzw. einem psychotischem Syndrom oder auch einer Intoxikationspychose. Die geht meist von selbst weg, ohne dass es regelhaft einer gezielten Behandlung bedarf, es sei denn es ist so schlimm, dass derjenige bei uns aus dem Fenster springen würde, was aber eher selten ist. Dann gibt es aber auch diejenigen Personen, die anlagebedingt, also durch die genetische Ausstattung oder durch andere Faktoren, die sie vulnerabel gemacht haben, sowieso schon etwas eher gefährdet sind, eine Schizophrenie zu entwickeln. Das weiß man natürlich nicht vorher. Man weiß nur, wenn jemand zum Beispiel Eltern, Geschwister oder Großeltern mit einer schizophrenen Erkrankung hat, dann ist die Gefahr, dass jemand selbst auch daran erkrankt, höher als bei jemandem, bei dem keine familiäre Belastung da ist. Aber bei vielen ist auch eine gewisse Anfälligkeit da, ohne dass man das vorher weiß. Und wenn diese Personen Cannabis konsumieren, kommen sie damit leichter und schneller über die Psychoseschwelle als jemand, der diese angeborene oder langjährig mit vielen Stressoren erworbene Anfälligkeit nicht hat. Für die Entstehung von Schizophrenie geht man vom so genannten Vulnerabilitäts-Stress-Modell aus, d. h. es gibt eine angeborene Bereitschaft plus verschiedene Stressoren wie Stress in der Kindheit, Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Partner, am Arbeitsplatz oder auch Infektionen. Da muss vieles zusammenkommen. Und wenn jemand schon dicht vor der Psychoseschwelle ist und dann noch zusätzlich Cannabis konsumiert, dann kommt er leichter darüber. So kann Cannabis psychotische Erkrankungen oder auch Schizophrenien auslösen, und zwar umso wahrscheinlicher je empfindlicher jemand dafür ist. Nur das steht niemandem auf der Stirn geschrieben. Insofern weiß man das bei einem Menschen nicht unbedingt vorher.
Drugcom: Können Sie uns etwas über die biologischen Mechanismen sagen? Was passiert im Gehirn? Woran misst man die Vulnerabilität?
Dr. Jockers-Scherübl: Genau weiß man es nicht. Man weiß auch nicht, wie die Schizophrenie zustande kommt. Man geht davon aus, dass mehrere Faktoren zusammenkommen müssen. Das gängigste akzeptierte Modell ist das vorhin bereits erwähnte Vulnerabilitäts-Stress-Modell, also ein Aufeinandertreffen von verschiedenen Faktoren. Allerdings weiß man nicht, warum der eine erkrankt und der andere nicht. Die bekannteste Hypothese zur Entstehung der Schizophrenie ist die so genannte Entwicklungshypothese, d. h. schon im Mutterleib bei der Entwicklung des Gehirns sind bestimmte Prozesse bei denjenigen anders, die später an einer Schizophrenie erkranken. Aber man weiß nicht, warum die einen erkranken und andere nicht. Durch die Untersuchung von Gehirnen hat man herausgefunden, dass bestimmte embryonale Zellen, die normalerweise in der Entwicklung verschwinden, bei denjenigen, die an einer Schizophrenie erkranken, noch immer vorhanden sind. Dennoch bedeuten auch solche Veränderungen nicht, dass jemand sicher krank wird, es erhöht nur die Wahrscheinlichkeit. Man geht aber davon aus, dass wenn ein Gehirn eine Veränderung erworben hat, dann ist die Bereitschaft eher da krank zu werden. Es gibt die so genannte „Second-Hit Theorie“. Das bedeutet, dass wenn auf ein anfälliges Gehirn noch eine weitere Sache drauf kommt, wie zum Beispiel Cannabis, dass das dann vielleicht zu viel ist. Wir sprechen jetzt hier aber nicht vom einmaligen Konsum, sondern der Ausbruch der Erkrankung ist ganz offenkundig abhängig vom Alter des Erstkonsums – also davon, wie alt er zu Beginn des regelmäßigen Konsums ist – und von der Häufigkeit und Menge des Konsums.
Drugcom: Es wird ja auch der frühe Einstieg beim Thema Cannabis und Psychose diskutiert. Man geht also davon aus, dass je früher jemand sein Gehirn mit Cannabis flutet, um so eher können sich dort Veränderungen abspielen, die ihn anfälliger machen.
Dr. Jockers-Scherübl: Es ist nicht so, wie früher angenommen wurde, dass die Entwicklung des Gehirns im Alter von 17 Jahren abgeschlossen ist. Aber speziell die Entwicklung des Endocannabinoid-Systems und des dopaminergen Systems, die beide sehr wichtig sind für die Intelligenzentwicklung, sind mit 17 Jahren weitgehend abgeschlossen. Diese Systeme interagieren mit allen anderen Transmittersystemen. Und wenn jemand im Alter zwischen 12 und 16 Jahren einen hohen Cannabiskonsum aufweist, können diese Systeme in ihrer Entwicklung gestört werden, und es kann zu bleibenden Veränderungen an den Rezeptoren der Systeme und den Botenstoffen kommen, die die Systeme mit Informationen versorgen. Wenn jemand stattdessen beispielsweise erst mit 25 regelmäßig, also täglich, anfängt zu kiffen, dann ist der Effekt viel geringer, da die Gehirnentwicklung schon weitgehend abgeschlossen ist.
Drugcom: Es wird ja in diesem Zusammenhang auch über den so genannten hochpotenten Cannabis gesprochen, der einerseits einen höheren THC-Gehalt aufweist, andererseits aber einen geringeren Gehalt einer Substanz aufweist, die Cannabidiol genannt wird. Von Cannabidiol nimmt man an, dass es psychoseähnlichen Effekten eher entgegenwirkt. Wie nehmen Sie das wahr? Gibt es in Ihrer Klinik mehr Patienten, die besonders viel von dem hochpotenten Cannabis konsumiert haben?
Dr. Jockers-Scherübl: Sicher kann ich mir da nicht sein, aber tendenziell scheint der Stoff potenter zu sein, was THC betrifft, als noch vor einigen Jahren. Ich hatte zum Beispiel Klienten, die kamen aus dem Gefängnis und sagten, sie seien über einen längeren Zeitraum abstinent gewesen und seien dann beim Kiffen gleich psychotisch geworden, obwohl sie meinten, die gleiche Menge konsumiert zu haben, wie zu der Zeit bevor sie ins Gefängnis gekommen sind. Das haben mir einige erzählt, woraus ich schließe, dass etwas dran ist. Wir machen bei denjenigen Patienten, die bei uns entgiften möchten, auch quantitative Untersuchungen, also Urintests – und so hohe quantitative Werte wie jetzt hatten wir früher nicht.
Drugcom: Gibt es so etwas wie Anzeichen oder Symptome, die man bei sich selbst entdecken kann und bei denen man sagen muss: Ich bin vielleicht gefährdet, eine Psychose zu entwickeln?
Dr. Jockers-Scherübl: Sicher kann man nicht sein, aber wenn es in der Familie Menschen gibt, die schon einmal an einer Psychose erkrankt sind, dann sind die anderen Familienmitglieder in der Regel sehr viel stärker gefährdet. Und wenn jemand nach Cannabiskonsum schon mal psychotische Zustände hatte wie zum Beispiel das Gefühl im Körper eingeschlossen zu sein oder Wahnvorstellungen hatte, also sich verfolgt fühlte oder das Gefühl hatte, dass alle gegen einen sind, dann sollten diejenigen vorsichtig sein, weil so etwas auch stärker wiederkommen kann oder diese Gefühle bleiben.
Drugcom: Der Cannabisrausch ist ja per se gekennzeichnet durch psychoseähnliche Zustände. Die einen haben eine euphorische Stimmung, andere werden aber auch ängstlich oder spüren sogar so etwas wie Paranoia. Wie kann man unterscheiden, was schon besorgniserregend ist oder noch eine „normale“ Substanzwirkung ist?
Dr. Jockers-Scherübl: Also ich denke, hundertprozentig auseinanderhalten kann man das nicht. Man muss abwarten, ob der Zustand mit Abklingen der Cannabiswirkung wieder aufhört. Aber wenn jemand schon mal einen paranoiden Zustand hatte, dann ist die Möglichkeit, dass der wiederkommt, größer. Allerdings kann es auch im Entzug zu Angstzuständen oder Panikattacken kommen, die aber wieder vorbei gehen. Wer also schon einmal nach Cannabiskonsum einen psychotischen Zustand hatte, dem ist dringend davon abzuraten, weiter Cannabis zu konsumieren. Denn selbst wenn Antipsychotika erst einmal helfen, erkranken diejenigen, die wieder Cannabis konsumieren, häufiger wieder. Und je öfter jemand erkrankt, umso stärker wird die kognitive Leistung langfristig eingeschränkt, umso schlechter geht es ihm und umso schlechter ist er sozial und beruflich integrierbar.
Drugcom: Wenn sich jemand wegen Cannabiskonsums und psychotischer Zustände in Behandlung begibt, was erwartet ihn und welche Aussichten hat er?
Dr. Jockers-Scherübl: Bei der Behandlung gehen wir zweigleisig vor. Zum einen sehen wir uns die Schizophreniekomponente an und zum anderen die Missbrauchs- oder Suchtkomponente an. Wir schauen auf jeden Fall erst einmal, ob derjenige intoxikiert ist. Wir lassen denjenigen zunächst entgiften und gucken, ob noch etwas von der Psychose übrig bleibt. Bei manchen ist dann gar nichts mehr da, sie sind also geheilt und können wieder nach Hause gehen. Oder es ist notwendig, denjenigen erst einmal mit Benzodiazepinen [Beruhigungsmitteln] zu sedieren – also wir geben nicht gleich Antipsychotika – damit derjenige wieder schlafen kann und weniger ängstlich ist. Wir schauen auch, dass der Patient in eine ruhige Umgebung kommt und an Psychoedukationsgruppen teilnimmt, wo über die Psychose gesprochen wird.
Drugcom: Über welchen Zeitraum sprechen wir da?
Dr. Jockers-Scherübl: Eine Entgiftung dauert im Schnitt drei Wochen. Das heißt aber nicht, dass jemand in dieser Zeit nur Däumchen dreht und sonst gar nichts macht. Was wir ganz stark verfechten ist Sport, ist die Teilnahme an Gruppen und an Psychoedukation – sobald das möglich ist. Wenn jemand aber ganz am Anfang sehr geängstigt, sehr gequält ist, dann natürlich nicht. Dann geben wir etwas zum Sedieren, zum Entängstigen, lassen denjenigen erst einmal in Ruhe und „belästigen“ ihn sozusagen nur so viel er das möchte. Ich möchte aber noch eine Bemerkung machen. Das hört sich alles so schlimm an, das ist aber ein ganz kleiner Teil derjenigen, die Cannabis konsumieren. Ich will das nicht verharmlosen, aber bei den meisten hat es ja nicht so einen großen Effekt. Von den Hochkonsumierern – wir sprechen von etwa 10 Prozent der Cannabiskonsumenten – sind es wiederum höchstens 10 Prozent, die eine Schizophrenie entwickeln.
Drugcom: Abschließend kann man sagen, dass man nicht weiß, wie Cannabiskonsum und die Entwicklung einer Psychose zusammenhängen, aber es gibt Hinweise, dass es den Zusammenhang gibt, dass Cannabis sich auf eine Vorbelastung „draufsetzt". Und ob jemand eine Vorbelastung hat, muss jeder bei sich selbst schauen, z. B. ob es schon andere Erkrankte in der Familie gibt oder ob ich womöglich selber schon ähnliche Erfahrungen gemacht habe, und in dem Falle sollte man wahrscheinlich besser nicht kiffen.
Dr. Jockers-Scherübl: Genau.
Drugcom: Ich danke Ihnen für das Gespräch.