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September 2006
So wie bei Tim, dem ersten Patienten einer in diesem Jahr neu eröffneten Klinik für Computerspielsucht in Holland. „Ich lebte ausschließlich in meinem Zimmer“, erzählt der 21-Jährige aus Utrecht, „um mich herum vier Bildschirme, die X-Box 360, Playstation2, die X-Box 1, ein Notebook und meinen Gamecube." 17 Stunden täglich habe er so verbracht - und er habe sogar in eine große Flasche gepinkelt, um mit dem Spielen nicht aufhören zu müssen.
Oder Christopher, der im letzten Jahr in Boltenhagen an der Mecklenburgischen Ostseeküste in Behandlung war. Der Alltag des damals 15-Jährigen war in ähnlicher Weise durch den PC bestimmt: 15 Stunden täglich verbrachte er vor dem Bildschirm, Essen und Schlafen waren Mangelware. Mit Freunden traf er sich lange nicht mehr und zur Schule ging er wochenlang auch nicht.
Wie kommt es zu solch exzessivem Spielen? Wissenschaftliche Untersuchungen ergaben, dass das unbezwingbare Bedürfnis zu spielen, auf vergleichbaren Mechanismen im Gehirn beruht wie Alkohol- oder Cannabisabhängigkeit. Dazu Sabine Grüsser-Sinopoli von der interdisziplinären Suchtforschungsgruppe des Charité-Klinikums in Berlin: „Das Belohnungssystem wird aktiviert und die positiven Erfahrungen in einem Suchtgedächtnis im Hirn gespeichert.“ Tatsächlich fand das Forschungsteam um Grüsser-Sinopoli in einer Studie mit über 7.000 Computerspielerinnen und -spielern bei fast 12% süchtiges Spielverhalten. So spielten diese beispielsweise viel mehr als eigentlich beabsichtigt, vernachlässigten andere Interessen oder Aufgaben oder zeigten sogar Entzugssymptome. Es sei damit zu rechnen, dass diese Zahl mit zunehmendem Einzug von Computern in den Alltag steigt, so Grüsser-Sinopoli.
Auch Keith Bakker, Gründer der Klinik für Computerspielsucht in Amsterdam, sieht enge Parallelen zur Abhängigkeit von Drogen oder Alkohol. Zudem stellten er und sein Team fest, dass immer mehr ihrer Suchtpatienten, die sich eigentlich wegen ihrer Drogen-, Ess- oder Trinksucht in Behandlung befanden, auch viel Zeit mit Computerspielen verbrachten.
Im Vergleich zum Leben in der realen Welt kommt es beim Computerspielen viel häufiger zu Erfolgserlebnissen und der damit verbundenen Aktivierung des körpereigenen Belohnungssystems. Je mehr Punkte gesammelt und je mehr Gegner besiegt werden, umso größer die Menge an Glückshormonen, die ausgeschüttet werden und signalisieren: „Gut gemacht!“
Zudem fesseln die faszinierenden Spielwelten der neuen Generation die Spielefreaks immer stärker. Während Pac-Man und Co. irgendwann keine Herausforderung mehr boten, ist die Möglichkeit zur Fortsetzung des eigenen virtuellen Abenteuers bei neuen Online-Spielen, in denen mitunter tausende Spielerinnen und Spieler weltweit vernetzt mit- oder gegeneinander antreten, schier unerschöpflich.
Michael Schulte-Markwort vom Universitätsklinikum Hamburg-Eppendorf ist der Ansicht, dass exzessives Spielen ein Ausdruck für Probleme im richtigen Leben sein kann. Computerspielerinnen und -spieler, die im realen Leben Ärger mit den Freunden haben, mit Schulproblemen konfrontiert sind oder einfach nichts besseres mit sich anzufangen wissen, finden im Computer einen zuverlässigen Spielgefährten - die Game-Community tritt somit immer öfter an die Stelle normaler Sozialkontakte, Probleme im Spiel werden wichtiger als Herausforderungen des Alltags.
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