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Dezember 2013
Regelmäßiger Cannabiskonsum kann abhängig machen, muss aber nicht. Es gibt Cannabiskonsumierende, die täglich kiffen, ohne die Kriterien einer Abhängigkeit zu erfüllen, andere hingegen schon. Was unterscheidet die Kiffer, die abhängig werden, von denen, die es im Griff behalten?
Bild: ovokuro / photocase.com
„Ich habe immer gedacht, ich hab’s unter Kontrolle“. Anfangs hat Patrick, 22 Jahre, noch sich selbst eingeredet: „Es ist ja nur Gras. Es ist ja nicht chemisch, es ist ja nicht so was wie Heroin oder Kokain.“ Mit dem Auftreten von Entzugserscheinungen hat sich seine Selbsteinschätzung allerdings geändert. „Ich kann nicht mehr schlafen, wenn ich nicht konsumiere. Ich werde aggressiv, wenn ich nicht konsumiere. Ich kriege schwitzige Hände. Das sind halt alles so‘ne Anzeichen gewesen, wo ich mir dann schon selber gesagt habe‚ okay, du bist abhängig.“
Nicht allen Cannabiskonsumierenden ergeht es wie Patrick. Tatsächlich entwickelt nur eine Minderheit derjenigen, die Cannabis konsumieren, eine Abhängigkeit. Die Forschung hat aufzeigen können, dass selbst täglicher Cannabiskonsum nicht zwangsläufig mit gravierenden Problemen zusammenhängen muss. Lange Zeit kursierte beispielsweise die Annahme, dass dauerhaftes Kiffen ein Amotivationssyndrom zur Folge hat. Beobachtet wurde, dass Cannabiskonsumierende, die dauerhaft kiffen, teilnahmslos und allgemein antriebsvermindert wirken und den Alltagsanforderungen mit einer gewissen Gleichgültigkeit gegenüber treten, sprich: sich ziemlich hängen lassen.
Zweifelsohne gibt es Menschen, die kiffen und antriebslos in den Tag hinein leben. Doch ist das nicht die Regel. Mittlerweile gilt die Annahme eines solchen Syndroms als widerlegt. Beispielsweise konnte in einer Studie mit 243 Personen, die täglich kiffen und 244 Nichtkonsumierenden nachgewiesen werden, dass sich beide Gruppen weder bei der Motivation noch bei der Lebenszufriedenheit bedeutsam voneinander unterscheiden.
Dieses Ergebnis darf aber nicht darüber hinwegtäuschen, dass tägliches Kiffen auch massive Probleme mit sich bringen kann, wie zum Beispiel Abhängigkeit. Abhängigkeit ist durch mehrere Kriterien gekennzeichnet, wesentlich ist der Kontrollverlust. Betroffene können ihren Konsum nicht mehr ohne weiteres reduzieren oder beenden. Es zeigen sich Folgeprobleme beispielsweise in der Schule, im Beruf oder in Beziehungen. Wer abhängig ist, kifft dennoch weiter und riskiert, dass sich die persönliche Situation weiter verschlechtert.
Was manche Kiffer ungern eingestehen: Abhängiger Cannabiskonsum bedeutet in der Regel eine starke Einschränkung der Lebensqualität. Anders als bei anderen Drogen sind die Auswirkungen bei Cannabisabhängigkeit weniger auffällig, sind versteckter. Manche Gewohnheitskiffer sind beispielsweise unsicher, ob ihre Schwierigkeiten im Kontakt mit anderen oder die depressiven Stimmungstiefs tatsächlich etwas mit dem Kiffen zu tun haben. Denn vielleicht gab es manche Schwierigkeiten auch schon zu Zeiten, in denen das Kiffen noch gar keine große Rolle gespielt hat.
Doch ebenso wie häufiges Kiffen nicht unbedingt zu Lustlosigkeit und mangelnder Lebenszufriedenheit führen muss, gibt es auch keine Einbahnstraße in die Abhängigkeit. Einige Kiffer ziehen sich jeden Tag ihren Joint rein, ohne dass sie die Kriterien einer Cannabisabhängigkeit erfüllen. Wo liegt der Unterschied?
Ein Forschungsteam aus den Niederlanden ist dieser Frage im Rahmen einer Längsschnittstudie nachgegangen. Die Niederlande sind ja bekannt für ihre vergleichsweise liberale Drogenpolitik. Wer volljährig und im Besitz einer niederländischen Staatbürgerschaft ist, kann in einem Coffee-Shop Haschisch oder Marihuana kaufen - ganz legal.
Studienleiterin Peggy van der Pol und ihr Team haben die Besucherinnen und Besucher von Coffee-Shops gefragt, ob sie an einer Studie teilnehmen wollen. Teilnahmekriterium war ein regelmäßiger Konsum von mindestens 3-mal pro Woche über die letzten 12 Monate. Auf 600 Personen, die sich zur Teilnahme bereit erklärt hatten, traf dies zu. Allerdings durfte noch keine Cannabisabhängigkeit vorliegen. Damit reduzierte sich die Stichprobe auf 269 Personen.
Im Rahmen von diagnostischen Interviews wurden die Teilnehmenden zu einer Reihe möglicher Faktoren befragt, die mit Abhängigkeit in Zusammenhang stehen können. Solche Faktoren werden auch als Prädiktoren bezeichnet. Das Verhalten - in diesem Falle Abhängigkeit - lässt sich mit Hilfe von Prädiktoren mit einer gewissen Wahrscheinlichkeit vorhersagen. Als Prädiktoren kamen Beispiel frühe Missbrauchserfahrungen, Suchtprobleme der Eltern oder besondere belastende Lebensereignisse in Betracht. Nach drei Jahren wurden die Beteiligten erneut interviewt, um herauszufinden, wer von ihnen inzwischen eine Abhängigkeit entwickelt hat und welche der untersuchten Prädiktoren sich als tauglich erwiesen haben.
37 Prozent der Befragten ist innerhalb der nächsten drei Jahre cannabisabhängig geworden. Bei den anderen zwei Dritteln ist der Konsum demzufolge nicht aus dem Ruder gelaufen. Interessanterweise hatte der Umfang des Konsums keinerlei Einfluss darauf, ob sich eine Abhängigkeit entwickelt oder nicht. Sowohl die abhängigen als auch die nicht abhängigen Personen kifften im Schnitt etwa drei Joints am Tag, mehr als die Hälfte von ihnen hatte eine Vorliebe für hoch-potenten Cannabis.
Auch für die meisten bekannten Prädiktoren einer Cannabisabhängigkeit konnte keine Signifikanz ermittelt werden. Weder psychische Probleme noch Suchterkrankungen in der Familie hatten einen bedeutsamen Einfluss darauf, dass der Konsum und die negativen Folgewirkungen überhandnahmen.
Nach Angaben des Forschungsteams widersprechen diese Ergebnisse den bisher bekannten Studien. Denn bislang galten insbesondere Missbrauchserfahrungen und psychische Störungen als Risikofaktoren für Abhängigkeit. Die Autorinnen und Autoren vermuten, dass die Entwicklung vom gelegentlichen zum regelmäßigen Kiffen zwar durch die genannten Faktoren beeinflusst wird. Bei der Entwicklung vom regelmäßigen Konsum zur Abhängigkeit würden derartige Einflüsse aber nur eine untergeordnete Rolle spielen.
Ein starker Prädiktor für die Entwicklung einer Abhängigkeit ist den Ergebnissen zufolge das Konsummotiv. Wer das Kiffen benutzt, um unangenehme Gefühle zu verdrängen, ist signifikant stärker gefährdet, eine Abhängigkeit zu entwickeln, als Kiffer, die es nicht zur Problembewältigung einsetzen.
Konsummotive stehen schon seit längerem im Verdacht, entscheidend daran beteiligt zu sein, dass der Cannabiskonsum problematische Züge bekommt. Eine Studie aus dem Jahre 2011 konnte beispielsweise herausarbeiten, dass Kiffer, die den Konsum dazu benutzen, depressive Gefühle oder Angst zu bekämpfen, am stärksten von negativen Konsequenzen betroffen waren. Dazu zählen beispielsweise Konzentrationsprobleme oder finanzielle Schwierigkeiten.
Neben den Konsummotiven konnte in der niederländischen Studie ein weiterer Prädiktor für die Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit herausgearbeitet werden: aktuelle kritische Lebensereignisse. Je stärker die Person belastet war mit negativen Ereignissen in der jüngsten Vergangenheit, desto wahrscheinlicher war es, dass sie eine Abhängigkeit entwickelt hat. Dies konnte beispielsweise die Trennung von einer geliebten Person sein oder eine schwere Erkrankung.
Unter allen untersuchten kritischen Lebensereignissen waren finanzielle Probleme allerdings am bedeutsamsten. Hierbei ist anzumerken, dass die finanziellen Probleme der Cannabisabhängigkeit vorausgegangen sind. Aufgrund des hohen Verbrauchs an Cannabis dürfte die finanzielle Situation aber zusätzlich belastet worden sein. Vermutlich wird das Kiffen in diesem Zusammenhang auch dazu benutzt, die mit der finanziellen Situation einhergehenden negativen Gefühle auszublenden.
Ein starker Prädiktor für die Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit war zudem das Alleinleben. Wer nicht mit einem Partner oder einer Partnerin zusammenwohnt, unterliegt keiner sozialen Kontrolle, was er oder sie in den eigenen vier Wänden tut. Bei regelmäßigem Cannabiskonsum steigt dann das Risiko, dass die alleinlebende Person die Kontrolle über ihren Konsum verliert.
Regelmäßiger Cannabiskonsum muss nicht zwangsläufig in eine Abhängigkeit führen, doch das Risiko ist hoch. Ein Drittel der Konsumierenden in der niederländischen Studie hat im Laufe der nächsten drei Jahre die Kontrolle über seinen Konsum verloren. Hierbei spielte jedoch weder die Häufigkeit noch die Intensität des Konsums eine Rolle. Der Konsum war bei allen Teilnehmenden der Studie etwa gleich hoch.
Wer allerdings das Kiffen dazu benutzt hat, Unangenehmes zu verdrängen, der- oder diejenige ist mit hoher Wahrscheinlichkeit abhängig geworden. Kritische Lebensereignisse haben zusätzlich dazu beigetragen, das Kiffen zur Bewältigung unangenehmer Gefühle zu benutzen.
Für Konsumierende ist es daher wichtig, die eigenen Konsummotive zu hinterfragen. Warum kiffe ich? Geht es um Genuss oder doch eher um Flucht? Wer sich unsicher ist, wie es um den eigenen Konsum bestellt ist, der kann den Cannabis Check machen. Beratung und Hilfe bietet das Programm Quit the Shit. Beraterin Reglinde erläutert im Interview, für wen das Programm geeignet ist und wie es hilft.
Quellen:
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