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Februar 2025
Wir haben alle mal Angst. Manche Menschen fürchten sich vor Spinnen oder vorm Zahnarzt, andere vor der nächsten Prüfung. Bis zu einem gewissen Grad ist das normal. Doch manche Menschen entwickeln eine starke Angst, die als Angststörung bezeichnet wird. Personen mit problematischem Cannabiskonsum sind häufiger davon betroffen. Ist die Angst eher Ursache oder Folge des Konsums?
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Angst ist ein beklemmendes Gefühl, das wir im Magen spüren oder uns die Kehle zuschnürt. Niemand hat gerne Angst, außer vielleicht im Kino. Und doch ist das Empfinden von Angst eine wichtige Emotion. Angst ist eine natürliche, mitunter sogar lebensrettende Reaktion auf eine bedrohliche Situation. Angstfreie Menschen hatten in grauer Vorzeit vermutlich wenig Überlebenschancen. Daher wird Angst auch als Basisemotion bezeichnen, die ebenso wie Wut oder Ekel zur „Grundausstattung“ des Menschen gehört.
Reagieren Menschen aber unangemessen oder dauerhaft ängstlich auf Dinge, die andere Menschen nicht oder kaum bedrohlich empfinden, so spricht man von einer Angststörung oder Phobie. Eine Angststörung kann zu erheblichen Beeinträchtigungen im Alltag der Betroffenen führen. Beispielsweise meiden Menschen mit Agoraphobie – umgangssprachlich als „Platzangst“ bekannt –Menschenansammlungen in Warteschlangen, Bussen oder öffentlichen Plätzen. Im schlimmsten Falle verlassen Menschen mit Agoraphobie kaum noch die eigene Wohnung.
Angststörungen zählen neben Depressionen zu den häufigsten psychischen Problemen im Jugendalter. Auch Erwachsene leiden vergleichsweise oft unter einer Angststörung. Bei rund 8 Prozent der über 18-Jährigen wurde 2023 eine Angststörung diagnostiziert.
Was haben Angststörungen mit Cannabiskonsum zu tun? Die Forschung gibt Hinweise darauf, dass der Cannabiskonsum stärker verbreitet ist unter ängstlichen Menschen. Einer Studie aus den USA zufolge entwickeln 29 Prozent aller Personen, die an sozialer Phobie leiden, einen problematischen Cannabiskonsum. In der US-amerikanischen Allgemeinbevölkerung haben hingegen nur 4 Prozent einen problematischen Cannabiskonsum.
Menschen mit sozialer Phobie leiden unter einer extremen Form der Schüchternheit. Sie fürchten sich vor Situationen, in denen sie vor anderen sprechen oder an geselligen Veranstaltungen teilnehmen müssen. Allein schon die Erwartungshaltung vor sozialen Situationen kann Angst auslösen. Denn die soziale Phobie ist genau genommen nicht die Angst vor Menschen, sondern die Angst vor möglichen kritischen Reaktionen anderer. Betroffene befürchten, sich ungeschickt oder peinlich zu benehmen. Die Angst kann sich in derartigen Situationen bis zu einer Panikattacke steigern.
Stellt sich die Frage, ob die Angst vor sozialen Situationen womöglich eine Ursache für Cannabiskonsum ist. Denn Cannabis hat auch eine entspannende Wirkung. Denkbar ist aber auch, dass Ängste erst durch den Cannabiskonsum entstehen. So ist bekannt, dass es bei Konsumierenden im Rausch zu Panikattacken kommen kann. Dann wäre die Angst eher Folge des Cannabiskonsums.
Die US-amerikanische Psychologin Julia Buckner hat mit weiteren Forscherinnen und Forschern eine Reihe an Studien zur sozialen Phobie bei Cannabiskonsumierenden durchgeführt. Hervorzuheben ist eine Längsschnittstudie, die sich über einen Zeitraum von 14 Jahren erstreckte. 816 Schülerinnen und Schüler nahmen daran teil. Bei der ersten Untersuchung waren sie im Schnitt 16,6 Jahre alt und zum Zeitpunkt der letzten Nachuntersuchung durchschnittlich 30 Jahre alt.
Die Ergebnisse weisen darauf hin, dass sich problematischer Cannabiskonsum in der zeitlichen Abfolge erst nach den ersten Anzeichen der sozialen Phobie entwickelt und bedeutsam damit zusammenhängt. Soziale Ängstlichkeit scheint demnach ein Risikofaktor für die Entwicklung problematischen Cannabiskonsums zu sein.
Eine Übersichtsarbeit eines US-amerikanischen Forschungsteams um Alexander Beletsky unterstützt diese Annahme. Die Forschenden haben sämtliche Studien gesichtet, die den Zusammenhang zwischen Angststörungen und Cannabiskonsum untersucht haben. In ihrer Analyse kommen sie zu der Schlussfolgerung, dass eine Angststörung dem Cannabiskonsum meist vorausgeht. Den umgekehrten Fall, bei dem eine Angststörung durch Cannabiskonsum ausgelöst wird, halten sie für eher unwahrscheinlich.
Die Forscherin Alanna Single hat in Zusammenarbeit mit Julia Buckner und weiteren Forschenden in einer Meta-Analyse zudem herausarbeiten können, dass der Zusammenhang zwischen sozialer Phobie und Cannabiskonsum nicht auf Jugendliche beschränkt ist. Vielmehr ist das Phänomen unter jungen Erwachsenen sogar stärker ausgeprägt, als unter Jugendlichen.
Wie lässt sich nun der Zusammenhang zwischen der sozialen Phobie und problematischem Cannabiskonsum erklären? Buckner und ihr Team erläutern, dass bei sozial ängstlichen Personen die Motivation für das Kiffen stärker dadurch geprägt ist, unangenehme Gefühle zu „bewältigen“. Das Forschungsteam um Alexander Beletsky spricht auch von der Selbstmedikations-Hypothese. Demnach benutzen Cannabiskonsumierende die Droge zur Bewältigung von Angstsymptomen.
Der aus dem englischen stammende Fachbegriff „Coping“ beschreibt dieses Verhalten, das auch vom Alkoholtrinken her bekannt ist. Ängstliche Personen benutzen die entspannende Wirkung einer Droge, um ihre Angst vor sozialen Situationen zu mildern. Dies könne jedoch wiederum zur Folge haben, dass sie soziale Situationen meiden, aus Angst, sie könnten sich im berauschten Zustand nicht angemessen verhalten. Denn die Angst vor der Kritik anderer Personen ist schließlich Ausdruck der sozialen Phobie.
Um Hinweise darauf zu bekommen, wann genau sozial ängstliche Konsumierende auf den Joint zurückgreifen, hat Julia Buckner in einer weiteren Studie regelmäßig kiffende Studierende mit kleinen tragbaren Computern ausgestattet. Darin sollten die Teilnehmenden über einen Zeitraum von zwei Wochen mehrmals täglich ihr aktuelles Verlangen nach Cannabis, ihren tatsächlichen Konsum und das Ausmaß ihrer Ängstlichkeit zum jeweiligen Zeitpunkt festhalten.
Die Ergebnisse zeigen, dass Cannabiskonsumierende mit sozialer Phobie häufiger dem Verlangen nach Cannabis nachgeben, als die übrigen Testpersonen. Besonders häufig griffen sie in Situationen zum Joint, in denen sie sich ängstlich fühlten und auch andere kiffende Personen anwesend waren. Waren sie hingegen mit Personen zusammen, die nicht kifften, nahm die Wahrscheinlichkeit des Cannabiskonsums mit zunehmender Ängstlichkeit sogar ab.
Bruckner und ihr Team vermuten, dass sozial ängstliche Cannabiskonsumierende Stress schlechter aushalten und sie dementsprechend auch schneller nachgeben, wenn das Verlangen nach Cannabis Stress auslöst. Hierfür nennt das Forschungsteam die so genannte Self-handicapping-Theorie als möglichen Erklärungsansatz. Demzufolge erwarten sozial ängstliche Menschen, dass sich der Cannabiskonsum negativ auf ihr Verhalten auswirkt und sie davon ausgehen, dass andere Menschen ihr Verhalten als Folge des Cannabiskonsums interpretieren und es nicht als Eigenschaft der Person betrachten. In anderen Worten: Die Angst, sich vor anderen lächerlich zu machen, wird dadurch besänftigt, dass sie sich tatsächlich und offensichtlich nicht normal verhalten, anderen aber signalisieren können, dass es auf die Cannabiswirkung zurückzuführen ist und nicht auf sie als Person.
Cannabis zu konsumieren, um mit der Angst klar zu kommen, ist jedoch kein sonderlich wirkungsvolles „Bewältigungsverhalten“. Vielmehr schafft es neue Probleme wie eine weitere Studie aus den USA deutlich macht. Der US-Wissenschaftler Nicholas Van Dam und sein Forschungsteam haben Cannabiskonsumierende via Internet befragt, um das Phänomen näher zu untersuchen. Von den 2.567 Befragten litten 275, das sind rund 11 Prozent, unter einer klinisch bedeutsamen Angststörung, also irgendeiner Form von Phobie. Zum Vergleich wurden weitere 275 Cannabiskonsumierende ohne Angststörung aus der Stichprobe ausgewählt, die sich hinsichtlich Alter, Geschlecht und Bildung nicht von den kiffenden Personen mit Angststörung unterschieden.
Zum einen machte die Gegenüberstellung beider Gruppen erneut deutlich, dass Angst in hohem Maße mit dem Ausmaß des Cannabiskonsums zusammenhängt. Ängstliche Personen konsumierten signifikant mehr Cannabis pro Woche als nicht-ängstliche. Zum anderen berichteten die ängstlichen Personen häufiger von Problemen, die aus dem Cannabiskonsum resultieren. Am stärksten war der Zusammenhang bei der sogenannten Prokrastination. Bei dem umgangssprachlich auch „Aufschieberitis“ genannten Problem werden wichtige Aufgaben oft nicht erledigt oder „auf die lange Bank geschoben“. So kann Prokrastination beispielsweise schlechte Leistungen im Studium zur Folge haben.
Cannabiskonsumierende mit Angststörungen litten zudem häufiger unter Gedächtnis- und Schlafproblemen sowie unter mangelnder Energie. Sie hatten öfter finanzielle Schwierigkeiten und fühlten sich weniger produktiv. Zudem hatten sie häufiger als andere Konsumierende ein schlechtes Gewissen wegen ihres Konsums.
Personen, die unter sozialen Ängsten leiden und Cannabis konsumieren, sind besonders gefährdet, einen problematischen Konsum bis hin zur Abhängigkeit zu entwickeln. Der umgekehrte Fall, also dass Cannabiskonsum zu einer Angststörung führt, wird als eher unwahrscheinlich betrachtet. Cannabiskonsumierende mit sozialer Phobie scheinen dazu zu neigen, die Droge zur „Bewältigung“ ihrer Angst zu benutzen. Wird der Cannabiskonsum zur „Selbst-Behandlung“ der Ängste aufrechterhalten, können sich allerdings Folgeprobleme verstärken.
Wirkungsvoller ist es, den Cannabiskonsum zu reduzieren oder einzustellen und gleichzeitig alternative Strategien gegen soziale Ängste zu entwickeln. Hierfür ist es empfehlenswert, die fachkundige Unterstützung im Rahmen einer Beratung oder einer Therapie in Anspruch zu nehmen. Das Programm Quit the Shit ist ein spezielles Programm für Cannabiskonsumierende, das kostenlos und weitestgehend anonym hilft. Alternativ bieten auch Drogenberatungsstellen vor Ort kostenlose Hilfe.
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