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Wann ist man süchtig?

Februar 2019

Wir sind „süchtig“ nach Schokolade, Smartphones und anderen Dingen, die wir nicht mehr missen möchten. Im alltäglichen Sprachgebrauch wird gerne mal von einer Sucht gesprochen, wenn wir etwas besonders gerne oder oft tun und nur schwer die Finger davon lassen können. Doch wann spricht man tatsächlich von einer Sucht?

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Bild: go2 / photocase.de

Früher gab es keine Sucht. Zumindest nicht als Begriff. Noch im Mittelalter soll der tägliche Konsum von mehreren Litern Bier zum Durstlöschen nicht ungewöhnlich gewesen sein. Auch kannte man Trinkgelage schon seit den alten Römern. Von einer Alkoholsucht war da aber noch nicht die Rede. Häufige Trunkenheit wurde eher als Laster, denn als Sucht im Sinne einer Krankheit verstanden. Erst im 19. Jahrhundert sollte sich das ändern. 1819 beschrieb der Arzt Constantin von Brühl-Cramer das starke Verlangen nach alkoholischen Getränken erstmals als eine seelische Erkrankung.

Abhängigkeit statt Sucht

Zahlreiche Werke wurden seitdem über das Wesen der Sucht verfasst. Was eine Sucht kennzeichnet und was süchtiges Verhalten von nicht süchtigem Verhalten unterscheidet, dazu gibt es allerdings bis heute kein einheitliches Verständnis. Denn Sucht lässt sich nicht objektiv nachweisen wie beispielsweise die Infektion mit einem Krankheitserreger. Genau genommen gibt es auch keine medizinische Diagnose Sucht.

1964 hat die Weltgesundheitsorganisation (WHO) empfohlen, nicht von Sucht oder Gewöhnung, sondern von Abhängigkeit zu sprechen. Der Begriff Abhängigkeit ermögliche eine Unterscheidung zwischen psychischer und körperlicher Abhängigkeit. Der Begriff Sucht wird aber sowohl von Fachleuten als auch von Laien weiter benutzt. Meist werden Sucht und Abhängigkeit vermutlich gleichbedeutend verwendet.

Abhängigkeit durch Kriterien definiert

Ab wann von einer Abhängigkeit gesprochen wird, dass definiert die WHO im Diagnosesystem ICD. Die Abkürzung steht für International Statistical Classification of Diseases and Related Health Problems. Das Diagnosesystem wird immer wieder neu überarbeitet und besteht derzeit in seiner zehnten Fassung, weshalb es aktuell als ICD-10 bezeichnet wird. Laut ICD-10 darf die Diagnose Abhängigkeit nur gestellt werden, wenn mindestens drei der folgenden Kriterien gleichzeitig während der letzten 12 Monate vorhanden waren:

  1. Ein starker Wunsch oder eine Art Zwang, psychotrope Substanzen zu konsumieren.
  2. Eine verminderte Kontrollfähigkeit in Bezug auf den Beginn, die Beendigung oder die Menge des Konsums.
  3. Ein körperliches Entzugssyndrom bei Beendigung oder Reduktion des Konsums, nachgewiesen durch substanzspezifische Entzugssymptome oder durch die Aufnahme der gleichen oder nahe verwandter Substanzen, um Entzugssymptome zu vermindern oder zu vermeiden.
  4. Der Nachweis einer Toleranz gegenüber der Substanz, im Sinne von erhöhten Dosen, die erforderlich sind, um die ursprüngliche durch niedrigere Dosen erreichte Wirkung hervorzurufen.
  5. Die fortschreitende Vernachlässigung anderer Vergnügungen oder Interessen zugunsten des Substanzkonsums sowie ein erhöhter Zeitaufwand, um die Substanz zu konsumieren oder sich von den Folgen zu erholen.
  6. Anhaltender Substanzkonsum trotz des Nachweises eindeutig schädlicher Folgen.

Die Diagnose einer Abhängigkeit wird auf alle Substanzklassen angewendet. Im ICD-10 wird unterschieden zwischen Alkohol, Opioiden, Cannabinoiden, Kokain, Stimulanzien, Halluzinogene, flüchtige Lösungsmittel (Schnüffelstoffe), Tabak, Schlaf- und Beruhigungsmittel sowie multiplem Substanzgebrauch und dem Konsum sonstiger psychotroper Substanzen. Jedoch tritt nicht bei jeder Substanz ein körperliches Entzugssyndrom auf.

Ein entscheidendes Merkmal einer Abhängigkeit im Sinne des ICD-10 ist „der oft starke, gelegentlich übermächtige Wunsch“ psychoaktive Substanzen zu konsumieren. Dieser starke Drang, konsumieren zu wollen, wird auch als Craving bezeichnet.

Exzessive Verhaltensweisen, die gelegentlich in den Rang einer Sucht gestellt werden wie beispielsweise Kaufsucht oder Sportsucht, werden hingegen nicht aufgeführt. Allerdings hat die WHO angekündigt, in der nächsten Überarbeitung, dem ICD-11, zumindest die Videospielsucht als „Gaming disorder“ in den Katalog mit aufzunehmen.

Substanzgebrauchsstörung statt Missbrauch und Abhängigkeit

Ein weiterer wichtiger Kriterienkatalog ist das DSM-5, das von der American Psychiatric Association herausgegeben wird. Die Kriterien im Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders sind weitgehend identisch mit denen des ICD-10. Zusätzlich wird im DSM-5 noch die soziale Dimension einbezogen. Damit gemeint ist die Einschränkung oder die Aufgabe wichtiger sozialer oder beruflicher Aktivitäten aufgrund des Substanzkonsums wie beispielsweise die Vernachlässigung schulischer oder beruflicher Aktivitäten.

Seit der Überarbeitung des DSM von der vierten zur fünften Ausgabe wird nicht mehr zwischen den Begriffen „Missbrauch“ und „Abhängigkeit“ unterschieden. Stattdessen werden beide Begriffe unter dem Titel „Substanzgebrauchsstörung“ zusammengefasst. Die Substanzgebrauchsstörung wird in verschiedene Schweregrade eingeteilt. Von den insgesamt 11 Kriterien im DSM-5 müssen mindestens 2 innerhalb des letzten Jahres aufgetreten sein. Bei 2-3 Kriterien gilt die Substanzgebrauchsstörung als leicht, bei 4-5 Kriterien als moderat. Ab 6 Kriterien wird die Substanzgebrauchsstörung als schwer eingestuft.

Die Definitionen im ICD-10 und DSM-5 verdeutlichen somit, dass eine Sucht sich nicht auf ein einziges Merkmal reduzieren lässt. Der starke Drang eine Substanz konsumieren oder etwas tun zu wollen, ist zwar ein wichtiges Merkmal, aber noch nicht hinreichend, um von einer Sucht sprechen zu können. Vielmehr bedarf es immer weiterer Kriterien.

Wer beispielsweise leidenschaftlich gerne Videospiele spielt und sich täglich über mehrere Stunden damit beschäftigt, muss nicht unbedingt als videospielsüchtig gelten. Vielmehr müssen sich bereits negative Folgen eingestellt haben. So darf nach dem zukünftigen ICD-11 erst dann von einer Videospielsucht gesprochen werden,

  1. wenn Spielende nachweislich die Kontrolle über ihr Spielverhalten verloren haben,
  2. das Spielen immer mehr den Alltag dominiert und
  3. weiter gespielt wird, obwohl schon erhebliche negative Folgen aufgetreten sind.

Betroffene vernachlässigen beispielsweise das Lernen für die Schule oder die Uni und riskieren damit schlechte Noten oder fallen in Prüfungen durch. Sie haben immer weniger Kontakt zu Freunden im realen Leben, haben womöglich Stress mit ihren Eltern oder anderen nahestehenden Personen und sind dennoch nicht in der Lage, ihr Spielverhalten trotz offenkundig negativer Konsequenzen zu reduzieren.

Alltägliches Verständnis von Sucht und Abhängigkeit nicht deckungsgleich mit offizieller Definition

Die Begriffe Sucht und Abhängigkeit finden auch im alltäglichen Sprachgebrauch ihre Anwendung. Jedoch scheint sich das Verständnis dessen, was eine Sucht kennzeichnet, nicht unbedingt mit den genannten Kriterien zu decken, wie eine Studie zum Thema Rauchen zeigt. Drei US-Forscherinnen haben Jugendliche dazu gefragt, was es für sie heißt, abhängig von Zigaretten zu sein.

Wie sich zeigte, hatten viele Jugendliche keine klare Vorstellung davon. Sie waren sich zwar bewusst, dass Abhängigkeit meist mit dem zwanghaften Verhalten zusammenhängt, hin und wieder dringend eine Zigarette rauchen zu müssen und es schwierig ist, wieder mit dem Rauchen aufzuhören. Gleichzeitig vertraten viele Jugendlichen aber die Ansicht, dass Abhängigkeit ein Verhalten sei, dass sie nach Belieben wieder abstellen können. So bejahten zwar viele rauchende Jugendliche die Frage, ob sie sich als abhängig bezeichnen, glaubten aber gleichzeitig, jederzeit damit aufhören zu können.

Es liegt aber in der Natur einer Abhängigkeit, dass das Konsumverhalten nicht mehr vollständig steuerbar ist. In der Fachsprache wird dies als Kontrollverlust bezeichnet. Kontrollverlust macht sich vor allem dann bemerkbar, wenn man versucht, auf ein Suchtmittel wie Zigaretten oder Videospiele zu verzichten, es aber nicht schafft.

Fazit

Menschliches Verhalten kennt viele Facetten. Exzessive Auswüchse bestimmter Verhaltensweisen werden allerdings erst seit dem 19. Jahrhundert als Sucht bezeichnet. Heute wird im offiziellen Sprachgebrauch meist von einer Abhängigkeit oder einer Substanzgebrauchsstörung gesprochen. Der Begriff Sucht wird aber nicht nur im Volksmund, sondern auch in Fachkreisen weiterhin verwendet.

Das alltägliche Verständnis dessen, was eine Sucht kennzeichnet, ist allerdings nicht immer deckungsgleich mit offiziellen Definitionen. Auch wenn beispielsweise ein starker Drang zu konsumieren oder etwas Bestimmtes zu tun, ein zentrales Kriterium für süchtiges Verhalten ist, reicht es allein nicht aus, um im medizinischen Sinne von einer Sucht sprechen zu können. In der Regel müssen mehrere Kriterien über einen längeren Zeitraum bestehen. So sind der Kontrollverlust über das Verhalten und nachweislich negative Folgen ebenso wichtige Kennzeichen einer Sucht.

Quellen:

  • American Psychiatric Association (2013). Diagnostic and Statistical Manual of Mental Disorders. Fifth Edition. DSM-5. Washington, DC: American Psychiatric Publishing.
  • Kielhorn, F.-W. (1996). The history of alcoholism: Brühl-Cramer’s concepts and observations. Addiction, 91(1), 121-128.
  • Kopp, W. (1873). Römische Privatalterthümer für höhere Lehranstalten und für weitere Kreise. Berlin: Springer.
  • O’Brian, C. (2011). Addiction and dependence in DSM-V. Addiction, 106(5), doi: 10.1111/j.1360-0443.2010.03144.x.
  • Roditis, M., Lee, J. & Halpern-Felsher, B. (2015). Adolescent (Mis)Perceptions About Nicotine Addiction: Results From a Mixed-Methods Study. Health Education & Behavior, doi: 10.1177/1090198115598985.
  • Rumpf, H.-J. & Kiefer, F. (2011). DSM-5: Die Aufhebung der Unterscheidung von Abhängigkeit und Missbrauch und die Öffnung für Verhaltenssüchte. Sucht, 57(1), 45-48.
  • Spode, H. (2013). Sucht aus historisch-soziologischer Sicht. In B. Badura, A. Ducki, H. Schröder, J. Klose, M. Meyer (Hrsg.), Fehlzeiten-Report 2013. Verdammt zum Erfolg - die süchtige Arbeitsgesellschaft? (S. 11-19). Heidelberg: Springer.
  • Ullrich, J. (2016). Sucht, Abhängigkeit und schädlicher Gebrauch Klassifikationen und Erklärungsansätze. In M. von Heyden, H. Jungaberle, T. Majić (Hrsg.), Handbuch Psychoaktive Substanzen. Springer Reference Psychologie. Berlin: Springer.
  • Weltgesundheitsorganisation (1993). Internationale Klassifikation psychischer Störungen. ICD-10 Kapitel V (F). Bern: Hans Huber.
  • WHO (1964). WHO Expert Committee on Addiction-Producing Drugs. Technical Report Series No. 273. Genf: WHO.
  • WHO Dependence syndrome
  • WHO ICD-11 6C51 Gaming Disorder
  • WHO Pressemitteilung (18.6.2018)

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