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Vom Kiffen zum Heroin?

Mai 2011

So lautet verkürzt formuliert die so genannte Gateway-Hypothese. Der Einstieg in den Cannabiskonsum öffnet gewissermaßen das Tor (engl. Gateway) zur Welt der illegalen Drogen. Die zeitliche Abfolge, also die Reihenfolge, in der bestimmte Drogen erstmals konsumiert werden, sei universell und unterliege einem kausalen Mechanismus. Cannabis sei demnach die „Einstiegsdroge“ für andere Substanzen wie Heroin. Doch einer neuen Studie zufolge machen die Konsumierenden illegaler Drogen in Japan und Nigeria der Gateway-Hypothese einen Strich durch die Rechnung.

Vergilbtes Einbahnstraßenschild an Backsteinmauer, daneben heruntergelassener Rollladen

Bild: Christian Säuberlich / photocase.com

Die These von der „Einstiegsdroge“ Cannabis hat ihren Ursprung in der Beobachtung, dass die meisten Opiatabhängigen zunächst mit dem Kiffen begonnen haben. Vermutet wurde unter anderem eine Art biochemischer Mechanismus, der bei Cannabis dazu führt, dass Konsumierende die Dosis steigern müssen und Cannabis bald nicht mehr ausreicht, um die Lust auf mehr zu stillen. Der Psychiater Karl-Ludwig Täschner hat es 1994 einmal so formuliert: „Die Dosissteigerung allein reicht beim Haschisch nur kurze Zeit aus, um die Wirkung weiter zu steigern. An seiner Stelle müssen vielmehr neue Drogen mit stärkeren Wirkungen treten.“

Heute gilt die These eines simplen Mechanismus, der bei Cannabiskonsum eine Art Automatismus hin zu stärkeren Drogen in Gang setzt, als widerlegt. Wenn die These richtig wäre, müssten angesichts der Verbreitung von Cannabis Millionen Menschen in Deutschland auf Drogen wie Opiate oder Kokain umsteigen. Das ist zweifelsohne nicht der Fall. Etwa 26 Prozent aller Deutschen über 18 Jahren haben schon mal gekifft, aber weniger als ein Prozent aller Erwachsenen hat einen aktuellen Konsum von anderen Drogen, außer Cannabis. Von der Gesamtheit der Cannabiskonsumierenden wechselt also nur ein sehr geringer Prozentsatz zu einem regelmäßigen Konsum von anderen Drogen über. Die meisten stellen übrigens auch den Konsum von Cannabis irgendwann wieder ein.

Kiffen als „Schrittmacherfunktion“ - wissenschaftlich nicht haltbar

Würde man die Tatsache, dass die meisten Opiatabhängigen mit Cannabis angefangen haben, als Argument für die Einstiegsdroge Cannabis anführen, könne man nach Ansicht der Drogenforscher Dieter Kleiber und Karl-Arthur Kovar ebenso gut behaupten, „dass eine Erkältung zwangsläufig zu einer Lungenentzündung führt, weil so gut wie jeder Lungenentzündung eine Erkältung vorausgeht.“ Beide Autoren haben 1998 im Rahmen einer umfangreichen Expertise die Risiken des Cannabiskonsums beleuchtet und stellten zu der Frage der „Einstiegsdroge“ fest, dass die These von der „Schrittmacherfunktion“ nach damaligem wissenschaftlichem Kenntnisstand nicht haltbar sei.

Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es eine mehr oder weniger feste Reihenfolge beim Ausprobieren psychoaktiver Substanzen gibt. Meist beginnt der Einstieg in den Konsum psychoaktiver Substanzen mit Alkohol und Tabak, gefolgt von Cannabis. In der Regel probieren Konsumentinnen und Konsumenten erst danach andere illegale Drogen. Wer beispielsweise Ecstasy und Amphetamine konsumiert, wird mit hoher Wahrscheinlichkeit schon mal gekifft haben.

Zwillingsstudie weist auf Risiko des frühen Einstiegs hin

Belege hierfür finden sich unter anderem in einer niederländischen Studie aus dem Jahr 2006, in der es um den frühen Einstieg ging. Michael T. Lynskey und sein Team haben herausgefunden, dass Zwillinge, die bereits vor dem 18. Lebensjahr gekifft haben, mit einer 7,4-fach höheren Wahrscheinlichkeit später Partydrogen konsumieren als ihre Brüder und Schwestern, die bei ihrem ersten Joint älter waren oder bislang kein Cannabis konsumiert haben. Für den Einstieg in den Konsum so genannter „harter Drogen“ - worunter die Autorinnen und Autoren Kokain und Heroin zählen - errechnen sie sogar eine 16,5-fach erhöhte Einstiegswahrscheinlichkeit. Vor allem der frühe Einstieg in den Cannabiskonsum scheint somit ein Risikofaktor für den späteren Konsum anderer Drogen sein.

In diesem Zusammenhang passen auch die Ergebnisse einer tierexperimentellen Untersuchung, in der nachgewiesen werden konnte, dass sich das Gehirn in jungen Jahren nachhaltig verändern kann, wenn Cannabis konsumiert wird. Ratten, die im Jugendalter THC, den Cannabiswirkstoff, verabreicht bekamen, zeigten Veränderungen im Belohnungszentrum des Gehirns. Es ließ sich eine erhöhte Konzentration von Opioidrezeptoren nachweisen, also den Andockstellen für körpereigene Opiate - oder auch körperfremde wie Heroin. Das bedeutet, dass Cannabiskonsum im Jugendalter auf biologischer Ebene womöglich doch eine erhöhte Anfälligkeit für den Konsum von anderen Drogen wie Opiaten nach sich zieht - wobei die Ergebnisse wohlgemerkt auf Tierversuchen beruhen, deren Übertragbarkeit auf den Menschen noch nicht geklärt sind.

Kann man also sagen, die Gateway-Hypothese stimmt doch? Um es nochmal zu verdeutlichen: Im Kern geht die Hypothese von einer festen Abfolge beim „Einstieg“ in den Substanzkonsum aus, bei der Cannabis anderen illegalen Drogen vorausgeht, also immer zuerst konsumiert wird.

Vom Kiffer zum Junkie: Gateway-Effekt wird überschätzt

Die beste Methode, um eine Hypothese zu überprüfen, die von einer zeitlichen Abfolge ausgeht, wäre eine Längsschnittstudie. Eine solche Studie würde im besten Falle mit einer Stichprobe von Menschen starten, die noch keine Drogen konsumieren, um dann über einen längeren Zeitraum zu beobachten, in welcher Reihenfolge und unter welchen Bedingungen andere Drogen ausprobiert werden. Die Wissenschaftlerin Karen van Gundy und ihr Kollege Cesar Rebellon haben genau dies getan. Sie haben 1.286 Schülerinnen und Schüler von insgesamt 48 Schulen im US-amerikanischen Regierungsbezirk Miami-Dade über einen Zeitraum von mehreren Jahren befragt. Zum Zeitpunkt der letzten Befragung waren sie zwischen 18 und 23 Jahre alt.

Tatsächlich belegen die erhobenen Längsschnittdaten, dass jugendlicher Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit für späteren Konsum anderer illegaler Drogen erhöht. Das Forschungsteam stellt aber fest, dass dieser Zusammenhang nicht per se existiert, sondern abhängig ist von mehreren Bedingungen. So wird die Entwicklung eines missbräuchlichen Drogenkonsums flankierend beeinflusst durch kritische Lebensereignisse und andere Stress erzeugenden Erfahrungen im Teenageralter. Damit aus einem Kiffer ein Junkie wird, müssen also noch andere belastende Lebensbedingungen hinzukommen.

Van Gundy und Rebellon konnten nachweisen, dass die Befragten trotz frühem Einstieg in den Konsum von Cannabis keine erhöhte Wahrscheinlichkeit für einen späteren Missbrauch von Drogen aufwiesen, wenn sie als junge Erwachsene einen festen Job hatten. Günstige soziale Bedingungen wiegen also etwaige negative Effekte des Cannabiskonsums wieder auf.

Zudem konnte das Forschungsteam das Alter als wichtigen Faktor benennen. Demnach sei der „Gateway-Effekt“ nicht mehr nachweisbar sobald die Betroffenen über 21 Jahre alt waren. Die jungen Menschen würden aus dem ungünstigen Einfluss des frühen Cannabiskonsums gewissermaßen „herauswachsen“. Diese Entwicklung zeige sich unabhängig davon, welche Erfahrungen die jungen Erwachsenen im Teenageralter hatten. Auch der Bildungsstand oder die familiäre Situation hatten kaum einen Effekt mehr, sobald die Personen das 21. Lebensjahr erreichten. Das Autorenteam kommt daher zu der Schlussfolgerung, dass der Gateway-Effekt ein komplexer Prozess sei, der insbesondere durch den sozialen Kontext, in dem jungen Menschen sich befinden, bedingt wird.

Die Gateway-Hypothese wurde somit zwar nicht gänzlich widerlegt, deutlich wird jedoch, dass nicht die Droge Cannabis als solche den Konsum anderer Drogen verursacht. Allerdings haben auch van Gundy und Rebellon die Sequenz, nach der erst Cannabis und dann andere illegale Drogen konsumiert werden, gefunden. Ist die Abfolge also tatsächlich universell?

Japan und Nigeria scheren aus

Eine groß angelegte weltweite Studie, die von der renommierten australischen Forscherin Louisa Degenhardt angeführt wurde, kommt zu dieser Frage zu einem eindeutigen Befund. Das hervorstechendste Merkmal der Studie ist die interkulturelle Stichprobe. 17 Länder und über 80.000 Menschen umfasst die Untersuchung. Alle Personen wurden mit Hilfe eines persönlichen Interviews befragt. Die Studie ist Teil des von der Weltgesundheitsorganisation WHO durchgeführten World Mental Health Surveys.

Die Befragung wurde sowohl in Industrieländern wie den USA, Australien, Japan oder Deutschland als auch in Entwicklungs- bzw. Schwellenländern wie Nigeria, Süd-Afrika, Ukraine oder China durchgeführt. Wenn die von der Gateway-Hypothese abgeleitete Annahme der festen Drogensequenz stimmt, müsste diese sich in allen untersuchten Ländern finden. Oder anders herum: Falls es Abweichungen gibt, muss der universelle Anspruch der Gateway-Hypothese stark angezweifelt werden.

Wie auch schon in vielen Studien zuvor konnte die Gateway-Hypothese vor allem in den Industrieländern bestätigt werden. Allerdings finden sich teils deutliche Unterschiede in der Verbreitung von „Gateway-Substanzen“, zu denen die Autorinnen und Autoren auch Alkohol und Tabak zählen. Beispielsweise haben 16 Prozent der Menschen in Süd-Afrika zum Zeitpunkt ihres ersten Joints noch nie Alkohol getrunken oder Tabak geraucht. Nach der Gateway-Hypothese müssten Alkohol und Tabak jedoch immer vor Cannabis konsumiert werden.

Ein Phänomen, das bislang gar nicht beobachtet wurde, ist der Konsum von illegalen Drogen vor Cannabis. Degenhardt und ihr Team fanden eben dieses Muster vor allem in Japan und Nigeria. Im Alter von 29 Jahren haben in Japan 83 Prozent der Menschen mit Drogenerfahrung noch nie gekifft, in Nigeria sind es 78 Prozent. Auch in Deutschland ist diese Reihenfolge nicht gänzlich unbekannt. Auf immerhin 17 Prozent trifft dies zu. Das Forschungsteam kommt in ihrem Fachartikel daher zu der Schlussfolgerung, dass ihr Befund im Kontrast zu der Annahme steht, dass der Einstieg in den Drogenkonsum einer universellen Sequenz folge, die mit Alkohol trinken und Tabak rauchen beginnt und über das Kiffen zu anderer illegalen Drogen führt.

„Image“ einer Droge

Warum das so ist, können Degenhardt und ihr Team nicht genau sagen. Vermutlich trifft das zu, was die bereits erwähnten deutschen Forscher Kleiber und Kovar bereits vor 13 Jahren vermuteten. Sie betonten in ihrer Expertise, dass es vom gegenwärtigen „Image“ einer Substanz und kulturellen Moden abhänge, in welcher Reihenfolge bestimmte Drogen ausprobiert werden. Das Argument, dass aufgrund der Illegalität von Cannabis eine Nähe zu anderen illegalen Substanzen hergestellt werde und so den Übergang befördere, hielten die Autoren für nicht wahrscheinlich. Cannabiskonsum unterliege mittlerweile, zumindest unter jungen Menschen, einer gewissen „Veralltäglichung“ und „Normalisierung“, sprich: Für viele junge Leute ist das Kiffen nichts Besonderes, und beim Erwerb der illegalen Droge Cannabis kommen sie nicht automatisch mit anderen Drogen in Kontakt, da es meist unterschiedliche Quellen sind.

Fazit

Letztlich sind die Ursachenketten beim Einstieg in den Drogenkonsum und der Fortsetzung desselben komplex und lassen sich nicht auf den Einfluss einer Substanz reduzieren. So müssen weitere Faktoren wie beispielsweise die Motive, die dem Konsum zugrunde liegen, psychische Probleme und die kulturellen Hintergründe ebenfalls in Rechnung gestellt werden. Die Substanz Cannabis ist nur ein Faktor von vielen und auch angesichts aktueller Studienergebnisse ganz sicher nicht die Einstiegsdroge.

Die Gateway-Hypothese trifft zwar auf viele Menschen im westlichen Kulturkreis zu. Dies betrifft beispielsweise vor allem Jugendliche, die sehr früh, also vor dem Alter von 16 einsteigen. Doch spätestens nach dem 21. Lebensjahr gilt die Gateway-Hypothese vermutlich nicht mehr und in bestimmten Kulturkreisen überhaupt nicht, weshalb die Hypothese, dass Kiffen der Einstieg in härtere Drogen sei, ihren universellen Anspruch inzwischen eingebüßt haben dürfte.

Quellen:

  • Degenhardt, L., Dierker, L., Chiu, W. T. et al. (2010). Evaluating the drug use “gateway” theory using cross-national data: Consistency and associations of the order of initiation of drug use among participants in the WHO World Mental Health Surveys. Drug an Alcohol Dependence, 108, 84-97. Zusammenfassung
  • Ellgren, M., Spano, S. M. & Hurd, Y. (2006). Adolescent Cannabis Exposure Alters Opiate Intake and Opioid Limbic Neuronal Populations in Adult Rats. Neuropsychopharmacology, 32, 607-615. Artikel
  • Kandel, D. & Chen, K. (2000). Types of Marijuana Users by Longitudinal Course. Journal of Studies on Alcohol and Drugs, 61, 367-378. Zusammenfassung
  • Kleiber, D. & Kovar, K. A. (1998). Auswirkungen des Cannabiskonsums. Eine Expertise zu pharmakologischen und psychosozialen Konsequenzen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
  • Lynskey, M. T., Vink, J. M. & Boomsma, D. I. (2006). Early Onset Cannabis Use and Progression to other Drug Use in a Sample of Dutch Twins. Behavior Genetics, 36, 195-200. Artikel (PDF)
  • Petersen, K. U. & Thomasius, R. (2007). Auswirkungen von Cannabiskonsum und -missbrauch. Eine Expertise zu gesundheitlichen und psychosozialen Folgen. Ein Systematischer Review der international publizierten Studien von 1996-2006. Lengerich: Pabst Science Publishers.
  • Pfeiffer-Gerschel, T., Kipke, I., Flöter, S., Karachaliou, K., Lieb, C. & Raiser, P. (2010).Bericht 2010 des nationalen REITOX-Knotenpunktes an die EBDD - Deutschland. Neue Entwicklungen, Trends und Hintergrundinformationen zu Schwerpunktthemen. DBDD. Bericht (PDF)
  • Reuband, K.-H. (1990). Soziale Determinanten des Drogengebrauchs. Eine empirische Untersuchung des Drogengebrauchs in der Bundesrepublik Deutschland unter besonderer Berücksichtigung soziologischer Theorien abweichenden Verhaltens. Habilitationsschrift. Köln: Universität Köln.
  • Tarter, R. E., Vanyukov, M., Kirisci, L. et al. (2006). Predictors of Marijuana Use in Adolescents Before and After Licit Drug Use: Examination of the Gateway Hypothesis. Am J Psychiatry, 163, 2134-2140. Artikel
  • Täschner, K. L. (1994). Drogen, Rausch und Sucht. Stuttgart: Trias.
  • Van Gundy, K. & Rebellon, C. (2010). A Life-course Perspective on the “Gateway Hypothesis”. Journal of Health and Social Behavior, 51, (3), 244-259. Zusammenfassung

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