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Oktober 2013
Kann der Konsum von Cannabis eine Psychose auslösen? Ist Cannabis womöglich eine Ursache für Schizophrenie? In der Wissenschaft werden diese Fragen kontrovers diskutiert. Für viele Forscherinnen und Forscher ist Cannabis jedoch nur der sprichwörtliche Tropfen, der ein ohnehin fast volles Fass zum Überlaufen bringt.
Bild: froodmat / photocase.com
„Ich war der Überzeugung, ich bin in der Hölle.“ Mit erstaunlich klaren Worten beschreibt Oliver L. im drugcom-Video rückblickend seine Erfahrungen. „Die Psychose hat sich ganz schleichend angedeutet. Ich habe ständig in irgendwelche Menschen, in irgendwelche Sachen, in irgendwelche Bilder etwas hinein interpretiert, was gar nicht da war. Und wenn es kleine Blicke von Leuten waren, die habe ich sofort irgendwie gedeutet, ‚der beobachtet mich‘ oder so.“ Oliver hatte bereits als Jugendlicher angefangen, Cannabis zu rauchen. Im Nachhinein ist er sich sicher, dass das Kiffen seine Psychose ausgelöst hat.
Ob Cannabis tatsächlich in der Lage ist, eine Psychose auszulösen, ist Gegenstand zahlreicher Studien. Psychotische Symptome können einschneidende Auswirkungen auf das Erleben der Betroffenen haben. Bei einer so genannten Intoxikationspsychose verschwinden die Symptome meist nach Abklingen der Wirkung. Bleiben die Symptome längere Zeit bestehen, so kann es sein, dass eine Schizophrenie vorliegt.
Schizophrenie ist eine besondere Form der Psychose, die meist zwischen dem 15. und 35. Lebensjahr zum ersten Mal auftritt. Damit einher geht immer ein Realitätsverlust, der durch Wahnvorstellungen wie z. B. Verfolgungswahn und/oder Halluzinationen gekennzeichnet ist. Oftmals kapseln sich Betroffene vollständig von der Umwelt ab. Manche töten sich in ihrer Verzweiflung selbst.
Sind nun alle Cannabiskonsumentinnen und -konsumenten von einer Psychose oder gar von Schizophrenie bedroht? Die Frage mag überspitzt formuliert klingen. Einige Studien zeigen allerdings, dass Cannabiskonsum tatsächlich mit einem erhöhten Risiko verbunden ist, an einer Psychose zu erkranken.
Hinweise hierauf liefert eine Langzeitstudie aus Deutschland, die sich über einen Zeitraum von 10 Jahren erstreckte. Knapp 2.000 Jugendliche und junge Erwachsene im Alter zwischen 14 und 24 Jahren haben daran teilgenommen. Das Ergebnis fiel eindeutig aus: Jugendliche, die nach der Erstbefragung mit dem Kiffen angefangen hatten, wiesen ein etwa doppelt so hohes Risiko auf, zu einem späteren Zeitpunkt psychotische Symptome zu entwickeln.
In ihrem Fachartikel weisen Studienleiter Jim van Os und sein Team allerdings darauf hin, dass gelegentliche psychotische Symptome durchaus verbreitet sind in der Allgemeinbevölkerung und meist ohne Folgen wieder abklingen. Teilnehmerinnen und Teilnehmer der Studie, die kontinuierlich Haschisch konsumiert oder Gras geraucht haben, wiesen aber ein erhöhtes Risiko dafür auf, dass sich die Symptome verfestigen. Die Symptome können schließlich die Vorläufer einer manifesten Psychose wie der Schizophrenie sein.
Belege hierfür finden sich in einer Studie aus Finnland. Das Forschungsteam wertete alle Klinikdaten von 1987 bis 2003 aus. Über 18.000 Patientinnen und Patienten waren in diesem Zeitraum wegen einer substanzbedingten Psychose im Krankenhaus. Nach dem erstmaligen Auftreten psychotischer Symptome entwickelten 46 Prozent der Personen, die aufgrund von Cannabiskonsum behandelt wurden, eine Schizophrenie. Eine beachtliche Zahl. Allerdings ist es möglich, dass die ersten Symptome zwar in Zusammenhang mit Cannabiskonsum aufgetreten sind, dies aber in Wirklichkeit schon die ersten Symptome der Schizophrenie waren.
Die Crux an Langzeitstudien ist, dass sie zwar einen Zusammenhang aufzeigen, aber nicht ausschließen können, dass in Wahrheit ganz andere Ursachen dahinterstecken. Sowohl das Kiffen als auch die Neigung zur Psychose können durch andere Faktoren ausgelöst worden sein, die nicht erfasst wurden. So bemängeln die Wissenschaftlerin Suzanne Gage und ihre Kollegen Stanley Zammit und Matthew Hickman, dass der Fokus der meisten Studien bislang zu einseitig auf Cannabis und zu wenig auf anderen möglichen Faktoren lag.
Ihr Hauptargument: Der Cannabiskonsum sei im Vereinigten Königreich seit den 1970er Jahren bis heute um das 10- bis 20-fache gestiegen. Die Zahl der Neubehandlungen aufgrund einer Schizophrenie habe in dieser Zeit jedoch nicht zugenommen. Es würde sich sogar ein leichter Abwärtstrend bei der Diagnose Schizophrenie abzeichnen. Wie passt das mit den Beobachtungen anderer Studien zusammen, in denen ein Zusammenhang zwischen Cannabis und Schizophrenie gefunden wurde?
In den zu diesem Thema veröffentlichten Fachartikeln der letzten Jahre kristallisiert sich eine alternative Modellvorstellung heraus. Cannabis spielt darin zwar noch eine Rolle, verliert aber an Bedeutung. In einem Übersichtsartikel schreiben Studienleiter Deepak D’Souza und sein Team, dass Cannabis vermutlich nur eine Komponente im Geflecht möglicher Ursachen ist. Cannabis alleine sei weder hinreichend noch notwendig, um eine Psychose auszulösen. Oder anders ausgedrückt: Kiffen alleine macht noch nicht verrückt. Erst durch das Zusammenspiel mit anderen Komponenten werde Cannabis zum Auslöser von psychotischen Erkrankungen.
Dem liegt die Tatsache zugrunde, dass generell noch nicht vollständig geklärt ist, wie Schizophrenie entsteht. Derzeit gilt in der Medizin das so genannte Vulnerabilitäts-Stress-Model als beste Erklärung für die Entstehung einer Schizophrenie. Im drugcom-Interview erläutert die Ärztin Maria-Christiane Jockers-Scherübl das Modell. Demnach gibt es neben einer möglicherweise genetisch bedingten Anfälligkeit eine Reihe an erworbenen Stressoren. Das können bestimmte Kindheitserfahrungen sein, Infektionen, Schwierigkeiten in der Familie, mit dem Partner oder mit dem Arbeitsplatz.
„Da kann vieles zusammenkommen“, fasst Jockers-Scherübl zusammen. „Mit diesen Faktoren kommt jemand leichter über die Psychoseschwelle. Und wenn jemand schon dicht davor ist und dann noch zusätzlich Cannabis konsumiert, dann kommt er leichter darüber. So kann Cannabis psychotische Erkrankungen oder auch Schizophrenien auslösen, und zwar umso wahrscheinlicher je empfindlicher jemand dafür ist.“
Die Empfindlichkeit erhöht sich durch bestimmte Risikofaktoren. Vor allem genetische Besonderheiten stehen im Fokus der Forschung. Ein Forschungsteam um Studienleiterin Marta Di Forti hatte ein bestimmtes Gen im Verdacht und überprüfte ihre Hypothese an einer Stichprobe mit gesunden und an Psychose erkrankten Personen. Genau genommen ging es um das Gen AKT1, von dem bekannt ist, dass es mit Schizophrenie in Zusammenhang steht.
Die Fall-Kontroll-Studie ergab, dass Personen, die diese Genvariante aufwiesen und Cannabis konsumiert haben, ein doppelt so hohes Risiko haben, an einer Psychose zu erkranken. Cannabiskonsumierende, die täglich kiffen, haben sogar ein 7-fach höheres Risiko für eine Psychose als Personen, die nicht Träger der Genvariante sind.
„Unsere Ergebnisse helfen zu erklären, warum der eine Cannabiskonsument eine Psychose entwickelt, während seine Freunde weiter rauchen, ohne Probleme zu bekommen“, erklärt Di Forti. Die Ergebnisse würden den Verdacht erhärten, dass das Psychose-Risiko bei Cannabiskonsum genetisch bedingt ist, erklärt John Krystal, Redakteur der Fachzeitschrift Biological Psychiatry.
Ein weiterer Risikofaktor für die seelische Gesundheit sind traumatische Kindheitserfahrungen. So konnte in einer Studie nachgewiesen werden, dass psychotische Symptome bei Cannabiskonsumierenden umso stärker ausgeprägt waren, je schwerer ihre Missbrauchserfahrungen in der Kindheit waren. Studienleiterin Cecile Henquet und ihr Team betonen, dass sich die negativen Auswirkungen von Kindesmissbrauch und Cannabiskonsum nicht einfach addieren, sondern sich gegenseitig in ihrer Psychose-fördernden Wirkung zu verstärken scheinen. Die Wissenschaft nennt dies Interaktionseffekt.
Aktuelle Studien weisen zudem daraufhin, dass es einen Interaktionseffekt gibt zwischen der genetischen Veranlagung, Missbrauchserfahrungen und Cannabiskonsum. Hinweise hierfür liefert beispielsweise eine Studie aus Spanien. Die Anthropologin Lourdes Fañanás und ihr Team haben an einer Stichprobe von 533 jungen Erwachsenen die Wechselwirkung zwischen Cannabiskonsum, Missbrauchserfahrung in der Kindheit und einer bestimmte Genvariante getestet. Dabei zeigte sich, dass Cannabiskonsum die Wahrscheinlichkeit für psychotische Symptome nur dann erhöht, wenn die Person Träger einer speziellen Genvariante ist und Missbrauchserfahrungen in der Kindheit gemacht hat.
Psychosen wie die Schizophrenie sind schwerwiegende Erkrankungen. Studien konnten zwar einen statistischen Zusammenhang zwischen dem Auftreten von Psychosen und Cannabiskonsum finden. Vieles deutet aber darauf hin, dass Cannabis nur eine Komponente bei der Entstehung von schizophrenen Erkrankungen ist und weitere Risikofaktoren vorliegen müssen. Cannabis allein sei somit keine Ursache für Psychosen. Kiffen könne aber bei ohnehin gefährdeten Personen gewissermaßen das Fass zum Überlaufen bringen.
Wer bereits psychoseähnliche Symptome bei sich entdeckt, sollte daher besser die Finger vom Kiffen lassen. Vorzeichen können sein: Das unbestimmte Gefühl, dass etwas Merkwürdiges mit einem passiert, das Gefühl, verfolgt zu werden oder die Erfahrung, dass die Gedanken rasen und nicht kontrolliert werden können. Auch wenn man plötzlich ungewöhnliche Dinge sieht, hört, riecht oder schmeckt können dies Frühzeichen einer Psychose sein. Mit dem Selbsttest Cannabis check können solche und andere Symptome überprüft werden.
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