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Synthetische Opioide: Warum sie so gefährlich sind

Februar 2024

Sie werden als „dritte Welle“ in der Opioid-Krise bezeichnet. In den letzten Jahren gehen Überdosierungen mit Opioiden in den meisten Fällen auf das Konto von synthetischen Substanzen. Konsumierende nehmen diese Drogen oft unwissentlich ein.

Bild: Zerbor / iStock.com

London, August 2021. Ein 41-jähriger Mann wird bewusstlos vor seinem Wohnblock gefunden. Er atmet nur noch schwach. Nachdem eintreffende Rettungskräfte ihm zwei Dosen des Opioid-Gegenmittels Naloxon verabreichen, kommt er wieder zu Bewusstsein. Bei Einlieferung ins Krankenhaus ist er ansprechbar, wenn auch mit leichten Bewusstseinsstörungen. Er gibt an, ein „neues“ Harz geraucht zu haben, von dem er dachte, dass es Cannabis gewesen sei.

Doch die Gefahr ist noch nicht gebannt. Eine Dreiviertelstunde nach der ersten Naloxongabe verschlechtert sich sein Zustand so stark, dass ihm das Gegenmittel ein weiteres Mal verabreicht werden muss. Weitere zwei Stunden später entwickelt der 41-Jährige erneut Atemprobleme. Daraufhin wird ihm das Naloxon über einen Tropf verabreicht, der erst nach 12 Stunden gestoppt wird. Einige Stunden bleibt er noch unter Beobachtung, bis er schließlich entlassen werden kann.

Klara de Baerdemaeker und ihr Team haben diesen und einen weiteren Fall in einem Fachartikel veröffentlicht. Innerhalb eines Monats hätten sich insgesamt 36 akute Opioidvergiftungen im Zentrum von London ereignet. Sonst seien es etwa 10 Fälle pro Monat. Das Ärzteteam wollte den Grund herausfinden und hat Blutproben von zwei Patientinnen und Patienten mit Hilfe hochmoderner Analyseverfahren untersucht. Das Ergebnis: Das synthetische Opioid Isotonitazen konnte nachgewiesen werden.

Forschung mit synthetischen Opioiden im zwanzigsten Jahrhundert

Synthetische Opioide sind künstlich im Labor hergestellte Substanzen. Dabei werden keine natürlichen Bestandteile verwendet. Natürliche Opioide wie Morphin oder Codein werden hingegen aus Rohopium produziert, das aus dem milchigen Saft der Schlafmohnkapseln gewonnen wird. Ebenso wie Morphin oder das durch einen chemischen Prozess aus Morphin produzierte Heroin binden synthetische Opioide an den körpereigenen Opioid-Rezeptoren.

Die pharmazeutische Forschung hat im vergangenen Jahrhundert eine ganze Reihe von künstlichen Opioiden synthetisiert. Methadon ist beispielsweise 1946 hergestellt worden. Fentanyl wurde 1959 erstmals synthetisiert. Die Forschung zu den so genannten Nitazenen, zu denen Isotonitazen gehört, wurde auch in den 1950er Jahren vorangetrieben. Nitazene sind synthetische Opioide, die zur Klasse der Benzomidazole gehören. Aufgrund ihrer „extremen pharmakologischen Potenz“ seien diese Substanzen aber kommerziell nie vermarktet worden.

Seit 2014 bilden synthetische Opioide eine „dritte Welle“ in der Opioid-Krise

Das gilt jedoch nicht für den illegalen Markt. Isotonitazen ist erstmals 2019 in einer Online-Sendung entdeckt worden, die für Belgien bestimmt war. Es gab weitere Nachweise in Großbritannien, Deutschland und den USA. Fachkreise sprechen aufgrund des vermehrten Auftauchens von synthetischen Opioiden auf dem illegalen Markt von einer dritten Welle in der Opioid-Krise, die in den 1990er Jahren in den USA ihren Anfang nahm.

Eine erste Welle tödlicher Überdosierungen sind durch verschreibungspflichtige Opioid-haltige Medikamente vorangetrieben worden. Ab etwa 2010 bildeten Überdosierungen mit der illegalen Droge Heroin eine zweite Welle. Seit 2014 dringen synthetische Opioide auf dem Markt, die sich nicht nur in den USA, sondern global auszubreiten scheinen.

Betäubungsmittel für Elefanten bis zu 10.000-mal stärker als Morphin

Die verstärkte Verbreitung synthetischer Opioide ging anfangs vor allem auf den vermehrten Konsum von Fentanyl zurück. Fentanyl wirkt etwa 100-mal stärker als das Schmerzmittel Morphin. In der Medizin wird Fentanyl nur bei starken oder chronischen Schmerzen verabreicht, die sich nicht mehr durch andere Schmerzmittel behandeln lassen.

Es gibt eine Reihe von Substanzen, die von Fentanyl abgeleitet sind und teils sogar noch stärker wirken. Ein besonders extremes Beispiel ist das synthetische Opioid Carfentanyl. Es ist nur in der Veterinärmedizin für die Betäubung von besonders großen Säugetieren wie Elefanten zugelassen. Carfentanyl ist schätzungsweise 100-mal stärker als Fentanyl und 10.000-mal stärker als Morphin. Aufgrund des extrem hohen Risikos einer Überdosierung wird Carfentanyl nicht bei Menschen angewendet.

Beimischung von synthetischen Opioiden in Heroin

Bei Überdosierungen mit Opioiden spielen neue psychoaktive Substanzen wie Carfentanyl und andere synthetische Opioide mittlerweile eine bedeutsame Rolle. Tückisch ist, dass Konsumierende nicht erkennen können, ob die Droge, die sie als Heroin gekauft haben, auch tatsächlich Heroin enthält. Langjährig Konsumierende, die eine für sie typische Dosierung wählen, riskieren unabsichtlich eine Überdosierung, wenn die Droge synthetische Opioide enthält. Auch in anderen illegalen Drogen wie Kokain, Methamphetamin oder Ecstasy wurden bereits synthetische Opioide gefunden.

Aktuelle Häufungen von Überdosierungen mit Opioiden, wie sie sich im August 2021 in London ereignet haben, sind meist auf synthetische Opioide zurückzuführen. Ähnliche „Ausbrüche“ sind aus Irland und Großbritannien bekannt geworden. Fachleute vermuten als Grund für die Zunahme, dass synthetische Opioide billiger in der Herstellung sind als Heroin. Das macht es für illegal Produzierende attraktiv, synthetische Opioide als Heroin zu verkaufen. Dies gilt besonders dann, wenn das Angebot an Heroin knapp ist. So haben die Taliban in Afghanistan im April 2022 den Anbau von Schlafmohn verboten. Seitdem sei die Produktion um 95 Prozent eingebrochen.

Unklare Dosierung des Gegenmittels Naloxon bei synthetischen Opioiden

Eine Überdosierung mit Opioiden ist immer akut lebensbedrohlich, weil sie zu einer Atemlähmung führt. Betroffene drohen zu ersticken, wenn nicht umgehend Gegenmaßnahmen ergriffen werden. Das wichtigste Notfallmedikament ist Naloxon. Es ist ein so genannter Opioid-Antagonist. Das Mittel verdrängt Opioide vom Rezeptor und hebt damit die Atemlähmung auf.

Drogengebrauchende können sich Naloxon auch als Nasenspray ärztlich verschreiben lassen, um es im Falle des Falles schnell griffbereit zu haben. So genanntes Take-Home-Naloxon hat sich in Modellprojekten als lebensrettendes Medikament bewährt. Die Deutsche Aidshilfe bietet auch ein Online-Training zum Thema Naloxon und Drogennotfall an.

Naloxon selbst hat keine berauschende Wirkung und keinen Effekt bei Personen, die keine Opioide nehmen. Der Opioid-Antagonist wird daher als sicher in der Anwendung eingestuft. Allerdings kann Naloxon bei Opioidabhängigen Entzugserscheinungen auslösen. Problematisch an synthetischen Opioiden ist, dass oft unklar ist, wie hoch die Dosis Naloxon sein muss, um die Atemlähmung aufzuheben ohne ein Entzugssyndrom auszulösen. Wie der eingangs geschilderte Fall illustriert, kann es auch sein, dass wiederholte Dosen Naloxon notwendig sind, weil das synthetische Opioid erneut Rezeptoren besetzt und eine Atemlähmung verursacht.

Fazit

Opioide sind ein Segen für Menschen, die starke Schmerzen erleiden. Doch der illegale Gebrauch als Rauschdroge birgt ein hohes Risiko einer tödlichen Überdosis durch Atemlähmung. Dies gilt besonders für synthetische Opioide, die teils um ein Vielfaches stärker wirken als Heroin. Konsumierende werden von der starken Wirkung überrascht, wenn die Droge unwissentlich mit synthetischen Opioiden verschnitten ist.

Drogengebrauchende können sich das Gegenmittel Naloxon als Nasenspray auch ärztlich verschreiben lassen. So genanntes Take-Home-Naloxon hat sich in Modellprojekten als lebensrettendes Medikament bei Heroinüberdosierungen bewährt. Allerdings ist angesichts der auf den illegalen Markt drängenden synthetischen Opioide nicht immer gewährleistet, dass Naloxon wie gewohnt wirkt. Häufigere und längere Gaben des Gegenmittels können notwendig werden.

 

Quellen:

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  10. tagesschau.de (5.11.2023)

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