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Kann Kiffen ein amotivationales Syndrom auslösen?

September 2018

Antriebslos dümpeln sie in den Tag hinein. Das stereotype Bild vom demotivierten Kiffer wurde in den 1960er Jahren geprägt und hält sich teils bis heute. Oder gibt es tatsächlich ein so genanntes amotivationales Syndrom durch Cannabiskonsum? Neuere Studien werfen die Frage auf, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit hinter dem Klischee steckt.

Nahaufnahme eines rauchenden Joints zwischen zwei Fingern

Bild: cendeced / Fotolia.com

1968 beklagten sich William McGlothlin und Louis West in einem wissenschaftlichen Fachartikel über die Folgen regelmäßigen Cannabiskonsums. Ihrer Beobachtung nach würden vormals engagiert Studierende immer träger werden und schließlich in einem Zustand tiefenentspannter Sorglosigkeit bis hin zur Apathie verharren.

Regelmäßiger Konsum würde dauerhafte Persönlichkeitsveränderungen nach sich ziehen, die zur Folge haben, dass Betroffene weder willens noch in der Lage seien, langfristige, komplexe Pläne für ihre Zukunft zu schmieden. Dauerkiffer würden eine starke Neigung zu „kindlich-magischen Denkweisen“ zeigen und sich selbst als kreativer bezeichnen, während ihre objektive Produktivität abnehme. Zur Beschreibung dieses Zustands benutzten McGlothlin und West den Begriff amotivationales Syndrom.

Frühe Kritik an Begriff des Amotivationssyndroms

Der Artikel ist nicht lange unkommentiert geblieben. 1971 veröffentliche der US-amerikanische Soziologe Erich Goode die Ergebnisse einer Befragung in der renommierten Zeitschrift Nature. Er verglich die College-Leistungen von 560 Studierenden. Sieben von zehn Studierenden hatten Erfahrung mit Cannabis. Die besten Leistungen erzielten ausgerechnet jene Studierenden, die gelegentlich kifften. Die Abstinenten unter den Befragten hatten nur etwas bessere Noten als stark kiffende Studentinnen und Studenten. Seine Ergebnisse seien zwar nicht repräsentativ, aber ein amotivationales Syndrom sei nach Einschätzung von Goode vermutlich alles andere als eine unausweichliche Konsequenz des Cannabiskonsums.

Ein Forschungsteam um Studienleiter David Kupfer hat sich in einem 1973 veröffentlichten Kommentar zur Studie von McGlothlin und West ebenfalls kritisch geäußert. Das Team kommt auf der Basis eines Vergleichs von stark und gelegentlich Kiffenden zu der Feststellung, dass depressive Symptome dem Cannabiskonsum in der Regel vorausgehen dürften und eine verminderte Motivationslage eher die Folge von Depressionen als von Cannabiskonsum ist.

Expertisen finden keinen Beleg für dauerhaft demotivierten Zustand

Die Diskussion um die Existenz eines amotivationalen Syndroms war damit aber nicht abgeschlossen. Noch im Jahr 2005 beschreibt der deutsche Psychiater Karl-Ludwig Täschner in einem Fachbuch das amotivationale Syndrom als ein Zustandsbild, „das im Gefolge des Cannabiskonsums nach längerer oder kürzerer Zeit eintritt“. Betroffene seien gekennzeichnet durch eine „Gleichgültigkeit gegenüber Alltagsanforderungen“. Durch Cannabiskonsum würde eine „demobilisierende Lethargie“ von den Betroffenen Besitz ergreifen. „Neuen Aufgaben werde zunehmend ausgewichen. Das Interesse an ihrer Inangriffnahme verringert sich ständig“, erklärt Täschner.

Ein durch Cannabis hervorgerufener anhaltender Zustand verminderter Motivation, der über die Dauer des akuten Rausches hinaus anhält, konnte allerdings bis heute nicht eindeutig belegt werden. In einer Expertise aus dem Jahre 1998 haben die Forscher Dieter Kleiber und Karl-Arthur Kovar darauf hingewiesen, dass nicht eindeutig zu klären ist, in welchem Maße Cannabis eigenständig einen demotivierten Zustand erzeugt. So könne der Konsum auch die Folge einer depressiven Symptomatik oder Ausdruck alternativer Werte und Lebensstile jenseits der Leistungsgesellschaft sein.

Eine weitere Expertise aus dem Jahr 2007, verfasst von Kay Uwe Petersen und Rainer Thomasius, kommt ebenfalls zu dem Schluss: „ Es gibt derzeit keine Evidenz für ein unabhängig von den Symptomen akuter Intoxikation auftretendes amotivationales Syndrom im Zusammenhang mit Cannabiskonsum“. Im Klartext: Die Wissenschaft hat bisher nicht nachweisen können, dass Cannabis tatsächlich die Ursache dafür ist, wenn Konsumierende über die Wirkung hinaus einen demotivierten Eindruck machen.

Auswirkungen auf schulische und berufliche Laufbahn

Kann man das amotivationale Syndrom also zu den Akten legen? Offenbar noch nicht, denn neue Studien haben die Frage nach dem amotivationalen Syndrom in den letzten Jahren wieder aufleben lassen. Es gibt Belege, dass Kiffen bei Jugendlichen ungünstige Auswirkungen auf die schulische und die berufliche Laufbahn haben kann. Zwar ist ein ursächlicher Zusammenhang nicht zweifelsfrei bewiesen, doch spricht eine Dosis-Wirkungs-Beziehung dafür, dass Cannabiskonsum eine Rolle spielen könnte, wenn es in der Schule mal nicht so gut läuft. Dies kann auch auf eine mangelnde Leistungsmotivation hindeuten.

So werfen neuere Studien die Frage auf, ob nicht doch ein Körnchen Wahrheit im amotivationalen Syndrom steckt. Ein US-amerikanisches Forschungsteam um Studienleiterin Ileana Pacheco-Colón hat in einem Review alle seit 1990 veröffentlichten Studien, in den die Motivation Konsumierender untersucht wurde, zusammenfassend ausgewertet. Tierstudien wurden außen vor gelassen. Insgesamt wurden 22 Studien ausfindig gemacht.

Gemischtes Bild durch neue Studien

Eine reduzierte Motivationslage konnte immerhin in neun von 22 Studien nachgewiesen werden. Die übrigen Studien fanden hingegen keinen Beleg für die Annahme eines amotivationalen Syndroms. Das Autorenteam fasst zusammen, dass es zumindest eine teilweise Unterstützung für die Existenz eines amotivationalen Syndroms als Folge von Cannabiskonsum gibt.

Sie stützen ihre Schlussfolgerung insbesondere auf zwei Längsschnittstudien, in denen Teilnehmende über einen längeren Zeitraum begleitet wurden. Längsschnittstudien liefern meist zuverlässigere Ergebnisse als einmalige Untersuchungen, wenn es um die Frage geht, ob ein Verhalten A einen Effekt B verursacht.

So hat eine der Längsschnittstudien mit Hilfe der Magnetresonanztomographie nachweisen können, dass bestimmte Bereiche des Belohnungssystems im Gehirn mit der Zeit schwächer reagierten. Dahinter steht die Annahme, dass eine Person nicht mehr so viel Mühe aufwenden wird, wenn das zu Erreichende nicht mehr als belohnend empfunden wird. Ein demotiviert wirkender Zustand kann somit dem Verständnis nach die Folge von mangelndem Belohnungsempfinden sein.

Allerdings weisen andere Ergebnisse auch darauf hin, dass Cannabis nicht exklusiv mit dem Belohnungsempfinden zusammenhängt. So zeigten sich auch bei Alkohol, Nikotin, Kokain und Glücksspiel ähnliche Abstumpfungseffekte. Dies spricht dafür, dass ein amotivationaler Zustand keine spezifische Folge des Cannabiskonsums, sondern eher ein genereller Ausdruck von Abhängigkeitserkrankungen sein könnte.

Fazit

Die Frage, ob Cannabis ein dauerhaftes amotivationales Syndrom erzeugen kann, schien wissenschaftlich bereits zu den Akten gelegt zu sein. Studien legten nahe, dass vermutlich andere Grunderkrankungen wie Depressionen einem demotivierten Zustand zugrundliegen und Cannabiskonsum nur eine Folge oder Begleiterscheinung einer angeknacksten Psyche ist. Der akute Rauschzustand und seine unmittelbaren Nachwirkungen würde zwar die Neigung Konsumierender verstärken, sich „hängen zu lassen“. Dieser Effekt würde aber meist mit dem Abklingen der Wirkung oder spätestens nach dem Absetzen der Droge wieder verschwinden.

Neuere Studien, in denen zum Teil bildgebende Verfahren eingesetzt werden, liefern jedoch Hinweise, dass es bei Dauerkiffern womöglich doch zu längerfristigen Veränderungen in der Hirnchemie kommen könnte. Diese Veränderungen können zur Folge habe, dass Betroffene bestimmte Dinge oder Ziele als nicht mehr so erstrebenswert erachten. Eine endgültige Antwort liefern diese Studien allerdings auch nicht, da letztlich nicht ausgeschlossen werden kann, dass nicht auch andere Faktoren zu diesen Befunden beitragen. Das gemischte Bild, das die Forschung liefert, lässt es aber zumindest als möglich erscheinen, dass sich langjähriger Konsum ungünstig auf die allgemeine Motivationslage auswirkt.


Quellen:

  • Goode, E. (1971). Drug Use and Grades in Colleges. Nature, 234, 225-227.
  • KleiberD. & Kovar, K.-A. (1998). Auswirkungen des Cannabiskonsums. Eine Expertise zu pharmakologischen und psychosozialen Konsequenzen. Stuttgart: Wissenschaftliche Verlagsgesellschaft.
  • Kupfer, D. J., Detre, T., Koral, J. & Fajans, P. (1973). A Comment on the „Amotivational Syndrome“ in Marijuana Smokers. Am J Psychiatry, 130 (12), 1319-1322.
  • Luijten, M., Schellekens, A. F., Kühn, S. Machielse, M. W. J. & Sescousse, G. (2017). Disruption of Reward Processing in Addiction An Image-Based Meta-analysis of Functional Magnetic Resonance Imaging Studies. JAMA, 74(4), 387-398.
  • McGlothlin, W. & West, J. (1968). The Marihuana Problem: An Overview. Amer. J. Psychiat., 125, 370-378.
  • Pacheco-Colón, I., Limia, J. M. & Gonzalez, R. (2018). Nonacute Effects of Cannabis Use on Motivation and Reward Sensitivity in Humans: A Systematic Review. Psychology of Addictive Behaviors, 32(5), 497-507.
  • Petersen, K.-U. & Thomasius, R. (2007). Auswirkungen von Cannabiskonsum und -missbrauch. Lengerich: Pabst Science Publishers.
  • Täschner, K.-L. (2005). Cannabis. Biologie, Konsum und Wirkung. Köln: Deutscher Ärzte-Verlag.

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