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April 2014
Vor 50 Jahren ist der Hauptwirkstoff von Cannabis erstmals identifiziert worden. Der Entdecker, Raphael Mechoulam, hat später auch herausgefunden, dass der Körper selbst Cannabinoide herstellt. Seitdem findet die Forschung immer mehr Belege dafür, wie wichtig körpereigene Cannabinoide für unser Denken, Fühlen und Handeln sind - und welchen Einfluss THC hierauf hat.
Raphael MechoulamBild: Tzahy / Wikipedia.org
Mit 5 kg „erstklassigem“ libanesischem Haschisch fing alles an. Als der Chemiker Raphael Mechoulam in den 1960er Jahren beschloss, sich auf die Suche nach den aktiven Bestandteilen von Cannabis zu machen, war der Besitz der Pflanze in Israel, wie in den meisten Ländern der Welt, illegal. Selbst zu Forschungszwecken war Cannabis nicht ohne weiteres zu bekommen.
Dank persönlicher Kontakte zur Polizei in Tel Aviv erhielt Mechoulam dennoch besagte Menge - ohne offizielle Lizenz, wie sich später herausstellte. Mit Hilfe eines neuen Magnetresonanzspektrometers, das er bei den Kollegen am Institut für Physik benutzen durfte, gelang es ihm schließlich gemeinsam mit Yehiel Gaoni, erstmals den zentralen psychoaktiven Wirkstoff der Cannabispflanze zu identifizieren. Sie gaben der Substanz die Bezeichnung delta-1-Tetrahydrocannabinol oder einfach THC. „Unglücklicherweise entschieden ein paar pedantische Chemiker später, strikt den Regeln der chemischen Nomenklatur zu folgen“, beklagt sich Mechoulam in einem Interview mit der Fachzeitschrift Addiction. So wurde delta-1-THC zu delta-9-THC.
Doch wie wirkt THC im Körper? Lange Zeit gingen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler davon aus, dass der Cannabis-Wirkstoff lediglich unspezifisch auf der Zellebene seine Wirkung entfaltet, also ohne an bestimmte Rezeptoren im Gehirn zu binden. Erst Ende der 1980er Jahre wurde eine spezifische Bindungsstelle für THC im Gehirn identifiziert, der CB1-Rezeptor. Anfang der 1990er Jahre wurde ein zweiter Typ, der CB2-Rezeptor gefunden.
Nun galt es, ein weiteres Rätsel zu lösen: Wofür hat der Körper Cannabinoidrezeptoren? „Wir gingen davon aus, dass Cannabinoidrezeptoren nicht dafür geschaffen wurden, die Inhaltsstoffe einer Pflanze zu binden“, erzählt Mechoulam. Vielmehr nahm er an, dass es einen körpereigenen Stoff geben muss, einen so genannten endogenen Liganden. Tatsächlich haben Mechoulam und sein Team kurz darauf ein körpereigenes, also endogenes Cannabinoid gefunden. Sie nannten es Anandamid, angelehnt an den Begriff „ananda“ aus dem indischen Sanskrit. Es steht für Glückseligkeit.
Und wieso kann THC an Rezeptoren binden, wenn diese doch für körpereigene Stoffe vorgesehen sind? Es sei „eine Laune der Natur“, erklären Raphael Mechoulam und Linda Parker in einem Übersichtsartikel zum Endocannabinoidsystem, Zufall also. Für die Forschung war die Identifikation dieses Systems allerdings der Startschuss für eine Reihe weiterer Entdeckungen, die Licht in viele Prozesse im Gehirn werfen.
Die Forschung hat zeigen können, dass das endogene Cannabinoidsystem eine zentrale Rolle bei der Entwicklung und Steuerung von Kognitionen, Emotionen und Motivation spielt. Das Denken und die Gefühle sowie die Motivation werden hierdurch beeinflusst.
Wird Cannabis konsumiert, so wird das Gehirn jedoch regelrecht geflutet mit THC. Dadurch können alle Funktionen betroffen sein, die vom Cannabinoidsystem gesteuert werden. Eine wichtige Funktion beispielsweise ist das Kurzzeitgedächtnis. Experimente mit Mäusen und Ratten liefern deutliche Hinweise darauf, dass THC die kurzfristige Merkfähigkeit beeinträchtigen kann.
Zu den häufig im Labor genutzten Versuchsaufbauten gehört ein sternförmig angeordnetes Labyrinth mit acht Gängen. Bei jedem Durchlauf wird von der Versuchsleitung in denselben Gängen des Labyrinths Futter verstaut. Andere Gänge bleiben jeweils leer.
Setzt man eine gesunde und mit dem Labyrinth vertraute Ratte darin ab, geht sie in der Regel zielstrebig in die Gänge, in denen Futter zu finden ist. Sie spart also die Gänge aus, die bereits während der letzten Versuchsreihen leer waren. Und sie durchsucht jeden Gang nur einmal. Die Ratte merkt sich offenbar, wo sie schon nach Futter gesucht hat.
Im Experiment kommt nun eine zweite Ratte zum Einsatz. Diese ist zwar gleichermaßen mit dem Labyrinth vertraut, aber im Gegensatz zur ersten wurde ihr THC verabreicht, bevor sie in den Versuchsaufbau gesetzt wurde. Das THC führt dazu, dass die Ratte wiederholt die gleichen Gänge aufsucht, obwohl diese leer sind. Sie kann sich also nicht erinnern, in welchem Gang sie gerade eben bereits war.
Tatsächlich scheint THC über das Cannabinoidsystem das Kurzzeitgedächtnis der Ratten zu beeinträchtigen. Denn die Auswirkungen von THC auf das Gedächtnis können im Labor gezielt ausgeschaltet werden. Dazu wird im geschilderten Experiment der Arzneistoff Rimonabant eingesetzt.
Rimonabant blockiert die im Körper vorhandenen Cannabinoidrezeptoren des Typs CB1 - jedoch ohne diese zu aktivieren. Das THC kann somit nicht mehr seine Wirkung entfalten. Gibt man der Ratte im Labyrinth nicht nur THC, sondern zuvor auch diesen Arzneistoff, findet sie sich wieder deutlich besser in den Gängen zurecht. Die THC-bedingte Einschränkung der Gedächtnisleistung lässt also nach.
Festgestellt wurde jedoch auch, dass sich die Ratten umso schlechter im Labyrinth zurechtfanden, je länger sie zuvor THC bekamen. Eine dauerhafte Manipulation des Cannabinoidsystem, durch eine tägliche Zufuhr von THC, führte im Experiment also zu deutlich schlechteren Gedächtnisleistungen. Immerhin ist dieser Effekt reversibel. Allerdings erlangen die Tiere erst nach einer 30-tägigen Abstinenzphase ihre ursprüngliche Gedächtnisleistung wieder.
Beginnt die tägliche THC-Zufuhr bei Mäusen bereits in der frühen Pubertät, sind sogar bleibende kognitive Einschränkungen bei den Tieren zu beobachten - auch wenn die Zufuhr von THC im jungen Erwachsenenalter wieder eingestellt wird. Bestimmte Strukturen im Hippocampus sind bei diesen mit THC aufgewachsenen Tieren signifikant kleiner und haben eine geringere Dichte, als bei abstinent aufgewachsenen Mäusen. Das Cannabinoidsystem hat also einen wichtigen Einfluss auf die Entwicklung von Nervenzellen, die sogenannte Neurogenese. Auch beim Menschen scheint der frühe Cannabiskonsum von Jugendlichen ähnliche Auswirkungen zu haben.
Dass der Eingriff in das endogene Cannabinoidsystem gravierende Auswirkungen haben kann, macht auch der Einsatz des erwähnten Arzneistoffs Rimonabant beim Menschen deutlich. Denn durch die Blockierung der CB1-Rezeptoren wird nicht nur THC unwirksam. Auch die körpereigenen Cannabinoide verlieren ihre Wirkung.
Viele Patientinnen und Patienten, bei denen der CB1-Rezeptor durch Rimonabant blockiert wurde, entwickelten Angststörungen oder Depressionen. Einige nahmen sich sogar das Leben. Ursprünglich sollte Rimonabant für den Rauchausstieg und gegen Fettleibigkeit eingesetzt werden. Aufgrund der gefährlichen Nebenwirkungen musste das Arzneimittel allerdings wieder vom Markt genommen werden.
CB1-Rezeptoren und die daran bindenden endogenen Cannabinoide haben offenbar einen zentralen Einfluss auf die Entstehung und Regulation von Angst und Depression. Tatsächlich führt bei Mäusen die künstliche Zufuhr von Anandamid zu einer signifikanten Abnahme von Angstsymptomen. Der gleiche angstlösende Effekt stellt sich bei Ratten ein, wenn der Abbau von Anandamid künstlich verhindert wird.
Die Wirkung sowohl von Endocannabinoiden als auch von THC ist aber kein einfacher Mechanismus. Der Konsum von Cannabis kann zwar Glücksgefühle auslösen, es können aber auch Angstzustände ausgelöst werden. Das gleiche Phänomen ist bei körpereigenen Cannabinoiden zu beobachten. Wird beispielweise die Konzentration des körpereigenen Anandamid bei Ratten stark erhöht, führt dies nicht zu einer Abnahme, sondern zu einer Zunahme der Ängstlichkeit.
Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sprechen deshalb auch von einem gegenläufigen oder biphasischen Effekt von Cannabinoiden. Die Wirkung sowohl von Endocannabinoiden als auch von THC hängt dabei von der Dosis und vom Organismus ab. Denn das Cannabinoidsystem reagiert individuell unterschiedlich auf bestimmte Eingriffe. Die Effekte, die durch niedrige Dosen erzielt werden, können bei hohen Dosen in das Gegenteil umschlagen. So konnte eine aktuelle Studie aufzeigen, dass THC zwar Angstsymptome lindern kann, chronischer Konsum aber zur Folge hat, dass Cannabinoidrezeptoren ihre Aktivität herunterregeln, was schließlich zu einer Zunahme der Angstsymptome führt. Dies könne einen Teufelskreis nach sich ziehen, weil Cannabis einerseits zur Linderung von Angstgefühlen benutzt wird, andererseits diese langfristig verstärkt werden.
Die Suche nach dem Wirkstoff von Cannabis hat nicht nur THC hervorgebracht, sondern auch zur Entdeckung des endogenen Cannabinoidsystems geführt. Das System aus körpereigenen Cannabioiden und speziellen Rezeptoren beeinflusst nicht nur unsere Stimmung. Studien zeigen, dass das endogene Cannabinoidsystem Einfluss auf vielfältige Funktionen in unserem Organismus hat.
So spielen Cannabinoidrezeptoren schon bei der Gehirnentwicklung von Embryos eine Rolle und sind besonders bei Jugendlichen aktiv, wenn ihr Gehirn fundamentale Umbaumaßnahmen bis ins junge Erwachsenenalter vollzieht. Chronischer Cannabiskonsum in der Jugendphase bringt daher das Risiko mit sich, dass die Gehirnentwicklung negativ beeinflusst wird.
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