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August 2012
Warum entwickeln manche Menschen eine Cannabisabhängigkeit, andere hingegen nicht? In der Wissenschaft gibt es zahlreiche Erklärungsversuche. Zwei konkurrierende Modelle wurden in einer 12-jährigen Längsschnittstudie in den USA überprüft. Demnach scheinen die Risiken für eine spätere Drogenabhängigkeit schon früh angelegt zu sein. Der Freundeskreis spielt dabei eine wichtige Rolle.
Bild: es.war.einmal.. / photocase.com
Gibt es Einstiegsdrogen? Mit der so genannten Gateway-Hypothese hat die Forscherin Denise Kandel in den 1970er Jahren eine bis heute andauernde Diskussion um die Frage entfacht, ob das Experimentieren mit einer Droge den Weg bahnt für weitere Drogen. Ihrer Ansicht nach ist die Reihenfolge, in der Menschen Erfahrung mit Drogen machen, nicht beliebig. Die legalen Substanzen Nikotin und Alkohol würden immer an erster Stelle stehen und Cannabis sei der „Einstieg“ (engl. Gateway) in die Welt der illegalen Drogen. Daraus wurde geschlussfolgert, dass beispielsweise der Einstieg in den Cannabiskonsum auch das Risiko für eine Opiatabhängigkeit erhöht.
Bis in Teilen der Allgemeinbevölkerung ist die Vorstellung vorgedrungen, dass ein Joint quasi der Anfang vom Ende ist und mehr oder weniger unweigerlich den Konsum stärkerer Drogen nach sich zieht. In der modernen Hirnforschung konnten sogar Belege für neurophysiogische Mechanismen nachgewiesen werden, die die Gateway-Hypothese unterstützen. Demnach führt Nikotin zu Veränderungen im Hirnstoffwechsel, so dass Kokain stärker wirkt. Nikotin könne so den Weg bahnen für eine Kokainabhängigkeit.
Doch in den letzten Jahren mehren sich die Zweifel an der Gateway-Hypothese. Eine kürzlich veröffentlichte Studie dürfte die Zweifler bestätigen. Ein Forschungsteam um Ralph E. Tarter, Professor für Psychologie an der Universität Pittsburgh in den USA, hatte eine Längsschnittstudie durchgeführt, die zum Ziel hatte, die Gateway-Hypothese vor dem Hintergrund besonders ungünstiger sozialer Bedingungen zu untersuchen. Damit verbunden war die Frage, ob die Gateway-Hypothese überhaupt noch von Bedeutung ist, wenn bereits verschiedene, den Drogenkonsum begünstigende Faktoren vorhanden sind. Schließlich hat die Gateway-Hypothese einen universellen Anspruch, soll also in allen Kulturen und subkulturellen Milieus seine Gültigkeit haben.
Daher hat das Forschungsteam eine spezielle Gruppe von Personen in die Studie einbezogen, und zwar Söhne von Vätern, die selbst Drogenprobleme haben. 500 Jungen wurden erstmals im Alter zwischen 10 und 12 Jahren befragt. Die Befragung wurde im Alter von 16, 19 und 22 Jahren wiederholt. 254 Jungen sind bis zum Schluss der Studie dabei geblieben.
Die Ergebnisse bestätigen zunächst die ungünstigen sozialen Ausgangsbedingungen der Jungen: Zwölf Jahre nach der Erstbefragung haben 37 Prozent der Teilnehmer im Alter von 22 Jahren einen problematischen Cannabiskonsum entwickelt. Ein im Vergleich zur Normalbevölkerung hoher Wert. 80 Prozent von ihnen haben in ihrer „Drogenkarriere“ tatsächlich die in der Gateway-Hypothese formulierte Drogenabfolge durchschritten, also erst geraucht, dann Alkohol getrunken und schließlich Cannabis konsumiert. Dennoch widersprechen die Ergebnisse der Gateway-Hypothese.
Tarter und sein Team hatten die Möglichkeit, den Einfluss verschiedener Faktoren über mehrere Jahre zu erfassen und statistisch dahingehend zu prüfen, wie stark ihr Einfluss auf die Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit ist. Den stärksten Einfluss haben demnach Gleichaltrige. Ob und welche Drogen ein Jugendlicher konsumiert, das wird stark vom unmittelbaren Freundeskreis beeinflusst. Doch den Freundeskreis allein für Cannabiskonsum verantwortlich zu machen, würde auch zu kurz greifen. Denn die Neigung, sich mit bestimmten Gleichaltrigen anzufreunden, ist den Ergebnissen der Studie zufolge nicht beliebig. Vielmehr würden die Wurzeln für die Wahl der Freunde bereits in der Kindheit angelegt werden.
Bei der Erstbefragung haben Tarter und sein Team die 10 bis 12 Jahre alten Jungen auf Verhaltensauffälligkeiten hin untersucht wie beispielsweise impulsives störendes Verhalten im Unterricht oder häufige Prügeleien auf dem Schulhof. Grundlage bildet ein Modell, das in Konkurrenz steht zur Gateway-Hypothese, das so genannte Modell der Common Liability to Addiction (CLA) (wörtl. übersetzt: allgemeine Anfälligkeit für Abhängigkeit).
Dem CLA-Modell zufolge setzt eine Drogenabhängigkeit zwar den Konsum von Drogen voraus, doch reiche dies alleine noch nicht aus, um das Risiko einer Abhängigkeit erschöpfend zu erklären. Vielmehr gäbe es eine Reihe an psychologischen Merkmalen, die das Risiko für eine Substanzabhängigkeit generell erhöhen, unabhängig von der Art der Droge. Eine feste Abfolge konsumierter Substanzen hat in diesem Modell keinen Platz.
Die Analyse der Längsschnittdaten hat verdeutlicht, dass Verhaltensauffälligkeiten im Kindesalter signifikant mit der späteren Wahl der Gleichaltrigen zusammenhängt. Wer sich schon in jungen Jahren aufmüpfig zeigt und oft in Konflikte gerät, wird sich auch als Teenager eher mit Gleichaltrigen anfreunden, die ebenfalls eine eher oppositionelle Haltung gegenüber sozialen Normen an den Tag legen, Drogenkonsum eingeschlossen. Ob und wie gut es dem Kind dennoch gelingt, sich sozial zu integrieren, dass hängt im Wesentlichen von der Eltern-Kind-Beziehung bzw. vom Erziehungsverhalten der Eltern ab.
Der Freundeskreis ist somit zwar ein wichtiger Faktor für den Einstieg in den Cannabiskonsum, er ist aber selbst nur eine Art Vermittler. In Wirklichkeit seien Probleme, die bereits in der Kindheit bestanden, Ursache für die spätere Cannabisabhängigkeit. Die Gateway-Hypothese, das heißt die Abfolge der ausprobierten Drogen, habe hingegen keinen signifikanten Einfluss auf die Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit. Beispielsweise hatten 19 Prozent der Jungen in der untersuchten Stichprobe noch nie Alkohol getrunken, bevor sie ihren ersten Joint geraucht haben. Allerdings ist anzumerken, dass der Konsum von Alkohol in den USA erst mit 21 Jahren legal ist.
Aus Sicht der Autorinnen und Autoren der Studie ergeben sich daraus wichtige Schlussfolgerungen für die Prävention der Cannabisabhängigkeit in den USA. Auf Grundlage der Gateway-Hypothese habe sich die Prävention aus Sicht des Forschungsteam vorwiegend darauf konzentriert, den Einstieg in den Konsum von Substanzen zu verhindern.
Auf Grundlage des CLA-Modells sei es aber bedeutend wichtiger, die Familie bei der Erziehung zu unterstützen, besonders jene in schwierigen sozialen Milieus. Denn die Eltern-Kind-Beziehung sei maßgeblich bei der Frage, ob sich Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern verfestigen und so das Risiko einer späteren Drogenabhängigkeit erhöhen oder ob das impulsive Verhalten des Kindes in positive Bahnen gelenkt wird. Besonders die Erziehung hin zu einem sozialverträglichen Verhalten habe nach Ansicht der Autorinnen und Autoren langfristige positive Auswirkungen, die auch einer Drogenabhängigkeit vorbeugen.
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