Topthema
Dezember 2008
Bild: www.pixelio.de / chris
Hinter dem Begriff „Einstiegsdroge“ verbirgt sich die Annahme, dass der Konsum von Haschisch oder Gras bzw. allgemein Cannabis mehr oder weniger zwangsläufig den Einstieg in den Konsum weiterer stärkerer Drogen wie Heroin nach sich zieht. Cannabis sei demnach der erste Schritt in Richtung einer Drogenabhängigkeit. Diese simple These gilt heute als widerlegt. Doch aktuelle Forschung zum frühen Einstieg in den Cannabiskosum hat die Diskussion neu entfacht. Demnach würden Veränderungen im Gehirn Jugendlicher möglicherweise doch eine grundlegende Anfälligkeit für Opiatkonsum nach sich ziehen.
Die These von der so genannten Schrittmacherfunktion hat ihren Ursprung in der Beobachtung, dass die Mehrheit der Opiatabhängigen bei ihrem „Einstieg“ in den Konsum illegaler Drogen mit Cannabis begonnen hat. Vermutet wurde unter anderem eine Art biochemischer Mechanismus, der bei Cannabis dazu führt, dass Konsumierende die Dosis steigern müssen und Cannabis bald nicht mehr ausreicht, um die Lust auf mehr zu stillen. Der bekannte Psychiater Karl-Ludwig Täschner hat es einmal so formuliert: „Die Dosissteigerung allein reicht beim Haschisch nur kurze Zeit aus, um die Wirkung weiter zu steigern. An seiner Stelle müssen vielmehr neue Drogen mit stärkeren Wirkungen treten.“
Heute gilt die These eines simplen Mechanismus, der bei Cannabiskonsum eine Art Automatismus hin zu stärkeren Drogen in Gang setzt, als widerlegt. Wenn die These richtig wäre, müssten angesichts der Verbreitung von Cannabis Millionen Menschen in Deutschland auf Drogen wie Opiate oder Kokain umsteigen. Das ist zweifelsohne nicht der Fall. Etwa 23 Prozent aller Deutschen über 18 Jahren haben schon mal Cannabis konsumiert, aber weniger als ein Prozent aller Erwachsenen hat einen aktuellen Konsum von anderen Drogen. Von der Gesamtheit der Cannabiskonsumierenden wechselt also nur ein sehr geringer Prozentsatz zu einem regelmäßigen Konsum von anderen Drogen über. Die meisten stellen übrigens auch den Konsum von Cannabis irgendwann wieder ein.
Würde man die Tatsache, dass die meisten Opiatabhängigen mit Haschisch oder Marihuana angefangen haben, als Argument für die Einstiegsdroge Cannabis anführen, könne man nach Ansicht der Drogenforscher Dieter Kleiber und Karl-Arthur Kovar ebenso gut behaupten, „dass eine Erkältung zwangsläufig zu einer Lungenentzündung führt, weil so gut wie jeder Lungenentzündung eine Erkältung vorausgeht.“ Beide Autoren haben 1998 im Rahmen einer umfangreichen Expertise die Risiken des Cannabiskonsums beleuchtet und stellten zu der Frage der „Einstiegsdroge“ fest, dass die Schrittmacherthese nach damaligem wissenschaftlichem Kenntnisstand nicht haltbar ist.
Dennoch ist es nicht von der Hand zu weisen, dass es eine mehr oder weniger feste Reihenfolge beim Ausprobieren psychoaktiver Substanzen gibt. Studien habe dazu eindeutige Belege vorlegen können. Fast alle Konsumentinnen und Konsumenten von Heroin, Kokain oder Ecstasy hatten mit Haschisch bzw. Marihuana begonnen. Konsequenterweise müssten aber der Konsum von Alkohol und Tabak in die Betrachtungsweise einer zeitlichen Abfolge einbezogen werden. Mit Alkohol werden in der Regel die ersten Rauscherfahrungen gemacht und vor der ersten Haschischzigarette kommt in fast allen Fällen zuerst das Tabakrauchen. Warum diese Reihenfolge so festgeschrieben zu sein scheint, ist nach wie vor nicht gänzlich geklärt.
Aller Wahrscheinlichkeit nach spielen die gesellschaftlichen Rahmenbedingungen eine wichtige Rolle. So betonen Kleiber und Kovar in ihrer Expertise, dass es vom gegenwärtigen „Image“ einer Substanz und kulturellen Moden abhänge, in welcher Reihenfolge bestimmte Drogen ausprobiert werden. Das Argument, dass aufgrund der Illegalität von Cannabis eine Nähe zu anderen illegalen Substanzen hergestellt werde und so den Übergang befördere, halten die Autoren für nicht wahrscheinlich. Cannabiskonsum unterliege mittlerweile, zumindest unter jungen Menschen, einer gewissen „Veralltäglichung“ und „Normalisierung“, sprich: Für viele junge Leute ist Haschisch oder Gras rauchen nichts Besonderes, und beim Erwerb der illegalen Droge Cannabis kommen sie nicht automatisch mit anderen Drogen in Kontakt, da es meist unterschiedliche Quellen sind.
Schließlich konnte die Forschung zeigen, dass es vor allem Gleichaltrige sind, also Freundinnen und Freunde, die einen wichtigen Einfluss auf den Drogenkonsum haben. In der Regel ist es nicht der „böse Dealer“, der Jugendliche verführt. Vielmehr sind es Personen aus dem Freundeskreis, die den Drogenkonsum initiieren und die Verfügbarkeit sicherstellen. Letztlich sind die Ursachenketten beim Einstieg in den Drogenkonsum und der Fortsetzung desselben aber komplex und lassen sich nicht auf den Einfluss einer Substanz reduzieren. So müssen weitere Faktoren wie beispielsweise die Motivation, die dem Konsum zugrunde liegen, psychische Probleme und die allgemeinen Lebensbedingungen ebenfalls in Rechnung gestellt werden.
Nachdem es nun den Anschein hatte, dass die These der „Einstiegsdroge“ Cannabis schon zu den Akten gelegt worden ist, sind in den letzten Jahren neue Forschungsarbeiten veröffentlicht worden, die das Thema wieder aufgreifen. Was frühere Studien nicht berücksichtigt hatten: Möglicherweise sind Jugendliche, die schon in jungen Jahren ihren ersten Joint rauchen, stärker gefährdet, als andere, die später einsteigen. Als früher Einstieg wird in der Regel der Konsum vor dem 16. Lebensjahr, gelegentlich auch vor dem 18. Lebensjahr definiert.
Um methodische Probleme der vielen Einflussfaktoren auf ein Minimum zu reduzieren, hat ein internationales Forschungsteam um den US-Wissenschaftler Michael Lynskey Studien an Zwillingen durchgeführt, also genetisch sehr ähnlichen Personen, die zudem unter gleichen Sozialisationsbedingungen aufgewachsen sind. Das Team fand heraus, dass Zwillinge, die bereits vor dem 18. Lebensjahr gekifft haben, mit einer 7,4-fach höheren Wahrscheinlichkeit später Partydrogen konsumieren als ihre Brüder und Schwestern, die bei ihrem ersten Joint älter als 18 waren. Daraus schließt das Autorenteam, dass Cannabis die Wahrscheinlichkeit für den Konsum von anderen Drogen möglicherweise doch erhöht, zumindest wenn es vor dem 18. Lebensjahr erstmals konsumiert wird. Klingt angesichts der Methode Zwillingsstudie durchaus einleuchtend. Was Michael Lynskey und seine zwei Kolleginnen aber nicht in die Analyse einbezogen haben und in ihrem Forschungsartikel auch selber als Manko einräumen müssen, ist die Tatsache, dass Zwillinge durchaus unterschiedliche Freunde haben können. Und die können ja nicht nur Haschisch, sondern auch andere Drogen wie Ecstasy oder Amphetamine konsumieren.
Bleibt die Frage, was denn bei Jugendlichen anders ist als bei Erwachsenen, wenn sie Haschisch oder allgemein Cannabis konsumieren. Zur Beantwortung dieser Frage greifen Forscherinnen und Forscher neuerdings auf Erkenntnisse der Hirnforschung zurück. So konnte in einer tierexperimentellen Untersuchung gezeigt werden, dass sich das Gehirn in jungen Jahren nachhaltig verändern kann, wenn Cannabis konsumiert wird. Ratten, die im Jugendalter THC, den Cannabiswirkstoff, verabreicht bekamen, zeigten daraufhin Veränderungen im Belohnungszentrum des Gehirns. Es ließ sich eine erhöhte Konzentration von Opioidrezeptoren nachweisen, also den Andockstellen für körpereigene Opiate - oder auch körperfremde wie Heroin. Das bedeutet, dass Cannabiskonsum im Jugendalter womöglich auf biologischer Ebene eine erhöhte Anfälligkeit für den Konsum von anderen Drogen wie Opiaten nach sich zieht.
Zweifel an der einfachen Übertragbarkeit auf den Menschen sind aber durchaus angebracht. Während die Ratten ihren „Stoff“ vom Untersuchungsleiter (zwangsweise) bekommen haben, ist die Initiierung und Fortsetzung des Konsums bei den Menschen durch viele Faktoren bestimmt, beispielsweise - wie oben erwähnt - durch den Freundeskreis. Auch wenn Veränderungen in der Hirnchemie festgestellt werden, ist noch unklar, wie nachhaltig diese sind und in welcher Weise dies mit anderen Faktoren interagiert.
Zusammenfassend lässt sich festhalten: Der Weg in den Drogengebrauch und seine mögliche Verhaltensverfestigung ist durch komplexe Ursachen und Verläufe charakterisiert. Dabei sind Haschisch oder Gras nur ein Faktor von vielen und auch angesichts aktueller Studienergebnisse ganz sicher nicht die Einstiegsdroge.
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