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September 2011
2008 haben US-amerikanische Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler in der renommierten Fachzeitschrift Science ein Tabu gebrochen und sich offen für das „Hirndoping“ ausgesprochen. Dabei geht es um den Einsatz von Medikamenten zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit bei gesunden Menschen. Wird es also bald normal sein, Drogen zu konsumieren, um dem gesellschaftlichen Leistungsdruck gerecht zu werden?
Bild: John Dow / photocase.com
Es sind nur noch wenige Tage bis zu den Prüfungen. Auf dem Schreibtisch stapeln sich Lehrbücher und Vorlesungsskripte, die Katja noch durchackern muss, doch sie kann sich kaum noch konzentrieren. Da erinnert sie sich an einen Kommilitonen, der ihr vor kurzem anvertraut hat, dass er hin und wieder mal ein paar Pillen einschmeißt, um besser lernen zu können. Seinem Arzt habe er von Unruhe und Konzentrationsproblemen berichtet, woraufhin er ein Mittel verschrieben bekam. Er könne ihr ein paar Pillen abgeben, meinte er. Soll sie es tun? Sind die auch wirklich so harmlos, wie ihr Freund behauptet?
Vom Prüfungsstress geplagt Schülerinnen, Schüler und Studierende haben es wirklich nicht leicht. Auch wenn Katja nur eine fiktive Person ist, Studien zufolge gibt es den einen oder anderen Prüfling, dem Kaffee & Co. nicht reicht und der stattdessen zu Medikamenten greift, um in der Schule oder im Studium bessere Leistungen zu erzielen. Angenommen, es gäbe ein Mittel, das völlig nebenwirkungsfrei ist und die Intelligenz um mindestens 10 Punkte erhöht. Wer würde vor der geschilderten Prüfungssituation noch der Versuchung wiederstehen können, wenn „clean“ bleiben bedeutet, ein oder zwei Noten schlechter abzuschneiden? Ein klarer Wettbewerbsnachteil gegenüber denen, die nicht lange fackeln, wenn es um die Karriere geht.
Ein Team US-amerikanischer Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler hat sich mit eben dieser Frage befasst. In der renommierten Fachzeitschrift Nature haben sie sich 2008 dafür eingesetzt, den Einsatz leistungssteigernder Mittel bei Gesunden nicht per se zu verurteilen. Vielmehr sei es eine willkommene neue Methode, um die Hirnfunktion zu optimieren. Auch in Deutschland finden sich Vertreter der Wissenschaft, die dem Thema Hirndoping positiv gegenüber stehen, wie ein Memorandum in der Zeitschrift Gehirn & Geist verdeutlicht.
Doch halt! Was für Mittel sind das eigentlich? Die Rede ist von so genannten „cognitive enhancing drugs“, das sind Mittel zur Steigerung der kognitiven Leistungsfähigkeit. Umgangssprachlich wurde hierfür der Begriff „Hirndoping“ geprägt, in Anlehnung an das illegale Doping im Leistungssport. Fachleute sprechen auch von „Neuro-Enhancement“, worunter allerdings auch technische Eingriffe wie Gehirnimplantate oder die tiefe Hirnstimulation mittels Elektroden fallen. Für den medikamentösen Eingriff in die Hirnchemie ist der Begriff „Doping“ hingegen durchaus passend, da hier wie im Sport gesunde Menschen Medikamente einnehmen, die für die Behandlung bestimmter Erkrankungen bestimmt sind.
Zu den chemischen Muntermachern zählen vor allem die stimulierenden Wirkstoffe Methylphenidat und Modafinil. Methylphenidat wird unter dem Handelsnamen Ritalin vertrieben. Es dient der Behandlung des Aufmerksamkeits-Defizit-Hyperaktivitäts-Syndroms (ADHS). Modafinil wird bei der Narkolepsie eingesetzt, einer Erkrankung, bei der Betroffene unter übermäßiger Tagesschläfrigkeit und Schlafattacken leiden. Daneben zählen noch Wirkstoffe, die gegen Demenz, Depressionen und Herzerkrankungen verabreicht werden, zu den Mitteln, die zum Hirndoping missbraucht werden.
Genau genommen kann das Hirndoping wie auch das Doping im Sport als Medikamentenmissbrauch bezeichnet werden. Schließlich werden die Mittel nicht im Rahmen des ursprünglichen therapeutischen Einsatzgebietes verwendet. Wer sich verschreibungspflichtige Mittel ohne Rezept beispielsweise über Internet-Apotheken im Ausland verschafft, macht sich sogar strafbar. Je nachdem, welche Wirkstoffe enthalten sind, kommen entweder das Arzneimittelgesetz oder das Betäubungsmittelgesetz zur Anwendung.
Zur Verbreitung des missbräuchlichen Konsums von Medikamenten zur kognitiven Leistungssteigerung liegen derzeit nur vereinzelte Zahlen vor. Eine Studie der Deutschen Angestellten-Krankenkasse (DAK) unter 3.000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmern ergab, dass etwa 5 Prozent der Erwerbstätigen im Alter zwischen 20 und 50 Jahren leistungssteigernde oder stimmungsaufhellende Medikamente einnehmen oder schon einmal eingenommen haben.
Eine Befragung unter Schülerinnen und Schülern der gymnasialen Oberstufe und Berufsschulen sowie Studierende der Fächer Medizin, Pharmazie und Betriebswirtschaftslehre ergab, dass rund 4 Prozent der Befragten mindestens einmal versucht hatte, Konzentration, Aufmerksamkeit oder Wachheit mit Hilfe legaler und illegaler Substanzen zu steigern. Gäbe es eine leistungssteigernde frei verfügbare Droge ohne Nebenwirkungen könnten sich 80 Prozent der Befragten vorstellen, sie zu nehmen.
Offensichtlich ist unter Schülerinnen, Schülern und Studierenden eine gewisse Bereitschaft zur Einnahme vermeintlich leistungssteigernder Medikamente vorhanden. Doch halten die Mittelchen auch was sie versprechen?
Die Deutsche Hauptstelle für Suchtfragen (DHS) hat in einem Positionspapier die derzeitige Forschungslage zusammengefasst. Demnach finden sich keine eindeutigen Hinweise auf eine Leistungssteigerung für die Einnahme von Methylphenidat und Modafinil bei Gesunden. Bei Kindern und Jugendlichen mit der Diagnose ADHS erzeugt Methylphenidat eine so genannte „paradoxe Wirkung“: Obwohl der Wirkstoff zu den Stimulanzien gehört, werden die Betroffenen ruhiger und können sich infolgedessen besser konzentrieren.
Gesunde Menschen würden aber nicht in jedem Falle in der gleichen Weise reagieren. Verglichen mit einer Placebo-kontrollierten Gruppe führte Methylphenidat in einer Studie mit Studierenden nicht zu besseren Prüfungsleistungen. Bei Entscheidungsaufgaben schnitten „gedopte“ Probandinnen und Probanden gegenüber einer Placebogruppe sogar schlechter ab. Entscheidungsaufgaben sind beispielsweise Multiple-Choice-Tests, die in manchen Prüfungen gefordert werden. Lediglich gesunde Erwachsene zwischen 20 und 35 Jahren, die eine eher schlechte Ausgangsleistung hatten, würden von Methylphenidat und Modafinil profitieren. Wer jedoch schon vorher gute Leistungen zeigte, verschlechterte sich unter dem Einfluss stimulierender Mittel.
Gesunde riskieren jedoch nicht nur, dass sich ihre Leistung verschlechtert. Medikamente haben auch Nebenwirkungen. Die DHS weist darauf hin, dass Methylphenidat Zustände von Euphorie und Überschwänglichkeit auslösen kann. Diese können zur Überschätzung der eigenen Leistungsfähigkeit führen und sich negativ auf die Prüfungssituation auswirken, weil die Prüfung weniger ernsthaft und sorgfältig angegangen werde.
Darüber hinaus können Stimulanzien wie auch Mittel gegen Depressionen oder Demenz weitere Nebenwirkungen auslösen wie Schlafstörungen, Unruhe, Nervosität und Appetitlosigkeit. Schließlich sei auch die Gefahr einer psychischen Abhängigkeit gegeben. Diese ist geprägt von einem intensiven Verlangen nach weiterem Konsum, weil die hervorgerufenen Effekte als angenehm und entlastend empfunden werden und der Drang entsteht, dies erneut zu erleben.
Keine Frage, die Lernanforderungen in Schule, Studium und Beruf übersteigen mitunter das persönlich erträgliche Maß. Da wünscht man sich öfter mal eine Art Gehirnupdate à la Matrix. In dem Hollywoodfilm erlernt der Hauptprotagonist Neo über ein Datenkabel, das an seinem Hinterkopf befestigt ist, beeindruckende Kampfkünste, ohne auch nur einen einzigen Tropfen Schweiß zu vergießen. Normalsterbliche müssen hingegen immer noch mühsam ihre Muskeln und grauen Zellen trainieren, indem sie üben, üben, üben.
Hirndoping verspricht hier, den Lernprozess abzukürzen, indem die Aufnahmefähigkeit unseres Denkapparats erhöht wird. Doch wie die bisherige Forschungslage zeigt, kann das auch „nach hinten losgehen“ oder unangenehme Nebenwirkungen mit sich bringen. Die DHS rät daher grundsätzlich von einer nicht bestimmungsgemäßen Einnahme verschreibungspflichtiger Medikamente ab. Stattdessen empfiehlt die DHS Alternativen auf der Grundlage wissenschaftlicher Erkenntnisse aus Psychologie, Medizin und Sportwissenschaften. Dazu gehören beispielsweise Entspannungsmethoden, Zeitmanagement, regelmäßige Pausen oder sportliche Aktivitäten. In Zeiten hoher Arbeitsbelastung können auch Gespräche mit Nahestehenden oder ein Kinobesuch mit Freunden zum Spannungsabbau und damit zu einer effektiven Lernstrategie beitragen.
Das Thema „Hirndoping“ wird derzeit unter Fachleuten kontrovers diskutiert und man kann mitunter den Eindruck gewinnen, als wenn es nur eine Frage der Zeit sei, bis die medizinische Forschung den nebenwirkungsfreien Intelligenzbooster in Pillenform entwickelt hat. Vermutlich wird es aber auf absehbare Zeit eine Utopie bleiben. Bestehende Medikamente, die geschaffen wurden, kranken Menschen wieder ein einigermaßen normales Leben zu ermöglichen, sind jedoch definitiv keine risikofreien Mittel, um Gesunden das Lernen zu erleichtern.
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