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November 2020
Tief bollernde Bässe, teure Autos … und Tilidin. Es heißt ja, dass jedes Musikgenre seine Drogen hat. Unter manchen Deutschrappern scheint es das Schmerzmittel Tilidin zu sein.
Bild: onemorenametoremember / photocase.de
„Gib mir Tilidin. Ja, ich könnte was gebrauchen.“ Capital Bra und Samra rappen es geradeheraus. Ihr Song „Tilidin“ klingt wie eine Hymne auf ihren Lifestyle, zu dem neben schicken Sportwagen, Wodka und Zigaretten scheinbar auch Tilidin gehört. Was ist das eigentlich für eine Droge und gehört Tilidin wirklich zum Deutschrap?
Tilidin ist ein künstlich hergestelltes Opioid, das in der Medizin als Schmerzmittel eingesetzt wird. Im Vergleich zu Morphin hat es eine etwa 5-mal schwächere schmerzstillende Wirkung und gilt daher als schwach wirkendes Opioid, das für mittelstarke bis starke Schmerzen empfohlen wird.
Bereits 1970 ist Tilidin in Deutschland auf den Markt gekommen. Allerdings gab es schon kurz darauf die ersten Berichte über missbräuchlichen Konsum und Abhängigkeit. Das Präparat wurde aus Apotheken oder direkt beim Hersteller gestohlen. Dies hat dazu geführt, dass Tilidin 1978 dem Betäubungsmittelgesetz unterstellt wurde und nur noch unter Auflagen verschrieben werden kann.
Auf normalem Rezept ist Tilidin nur noch dann verschreibbar, wenn es als Kombinationspräparat mit dem Gegenspieler Naloxon verabreicht wird. Seit 2013 muss die Wirkstofffreigabe zudem verzögert erfolgen. Schnell wirkende Tilidin-Tropfen, auch in Kombination mit Naloxon, fallen somit ebenfalls unter das Betäubungsmittelgesetz. Lediglich so genannte Retardtabletten sind auf normalem Rezept verschreibbar.
Die Kombination von Tilidin mit Naloxon hebt die Wirkung von Tilidin zum Teil auf. Das Mischungsverhältnis ist dabei so gewählt, dass die schmerzstillende Wirkung von Tilidin bei normalen Dosierungen und in geschluckter Form nicht durch Naloxon beeinträchtigt wird. Erst bei höheren Dosierungen oder beim Spritzen wird das Naloxon wirksam und hebt die Wirkung von Tilidin auf. Dadurch sollen Missbrauch und Abhängigkeit vorgebeugt werden.
Doch das scheint nicht immer zu funktionieren. Seit einigen Jahren gibt es Hinweise auf den Missbrauch von Tilidin. Im Deutschrap finden sich eine ganze Menge Songs, in denen mehr oder weniger offen der Konsum von Tilidin propagiert wird. Rapper wie Capital Bra und Samra feiern die Droge. So mancher Fan scheint sich daran ein Vorbild zu nehmen, wie eine Reportage des YouTube-Kanals STRG_F zeigt. STRG_F gehört zum öffentlich-rechtlichen Medienangebot funk. Der Reporter Mirco ist der Frage nachgegangen, ob die Rapper wirklich Tilidin konsumieren und wie das Geschäft mit Tilidin läuft.
Dem Reporter ist es gelungen, einen Kontakt zu einem Dealer herzustellen. Angeblich verkaufe der Dealer mindestens 100 Packungen Tilidin im Monat. Indirekt würden ihn die Deutschrapper unterstützen. Wenn Songs über Tilidin veröffentlicht werden, wie in dem Lied „Tilidin“ von Capital Bra und Samra, dann ginge sein Umsatz noch oben. Mit Skimaske und verfremdeter Stimme erklärt der Dealer: „Da war auf jeden Fall eine Welle. Die wollten alles haben. Ob Tropfen oder Tabletten, war scheißegal.“ Seinen Nachschub würde er über das Darknet bestellen.
Das Darknet ist anders als das „sichtbare“ Internet nur mit speziellen Internetbrowsern erreichbar. Grundsätzlich ist die Nutzung des Darknets nicht verboten, jedoch nutzen Kriminelle die Anonymität des Darknets, um mit illegalen Gütern zu handeln. Der Reporter Mirco hat sich auf einem Marktplatz für Drogen umgeschaut und ist darüber in Kontakt gekommen mit einem Großhändler. Der bestätigt ebenfalls, dass Deutschrapper Einfluss auf seinen Umsatz haben: „Ich fand es sehr bemerkenswert, dass der Großteil der Codein-Verkäufe einbrach, nachdem Capital den Song Tilidin releast hat.“ Codein ist ein Opioid, das ebenfalls missbräuchlich verwendet wird.
Nach Recherchen von STRG_F gibt es eine auffällige Entwicklung bei den Tilidin-Verordnungen der gesetzlichen Krankenkassen. Auswertungen zeigen einen beinahe kontinuierlichen Anstieg der Tilidin-Verschreibungen seit 2010. Der Pharmakologe Gerd Glaeske erklärt im Interview mit STRG_F, dass Tilidin mengenmäßig sogar so viel verordnet werde, wie alle anderen stark wirkenden Schmerzmittel zusammen. 2019, als der Song „Tilidin“ veröffentlich wurde, stiegen die Verschreibungen noch stärker und markierten einen neuen Höchstwert. Vor allem in der Gruppe der 15- bis 20-Jährigen seien die Verordnungen innerhalb von zwei Jahren um das 30-fache gestiegen.
Manche Konsumentinnen und Konsumenten würden sich auf Instagram sogar mit dem Konsum von Tilidin oder mit Bildern von Pillenpackungen brüsten. Mit einem von ihnen hat sich der Reporter Mirco getroffen und ist so auch in Kontakt zu dessen Freunden gekommen. Bei einem Treffen über die Plattform TeamSpeak beschreibt ein User offen seine Motivation: „Wenn Capital sagt, dass er auf Tilidin Lamborghini fährt, dann will man das auch irgendwo […] man will einem Samra, einem Capital, einem AK Ausserkontrolle möchte man näher sein so, dadurch, dass man sich dieselben Sachen antut wie die.“
Das mit dem „antun“ ist durchaus wörtlich zu nehmen, wie ein weiteres Gespräch mit Kolja zeigt. Zwei Packungen à 50 Stück habe der 22-Jährige pro Woche konsumiert. Bis er beschloss, damit aufzuhören. „Es ist höllisch gewesen“, sagt er. Die ersten zehn Tage sei er zu gar nichts zu gebrauchen gewesen. Er habe kaum geschlafen, sich ständig hin und her gewälzt, war völlig nassgeschwitzt. Das, was Kolja durchgemacht hat, war ein kalter Entzug. Denn Tilidin macht körperlich abhängig. Nach einer Weile des Konsums gewöhnt sich der Körper an die Droge. Wird der Konsum eingestellt, reagiert er mit sehr unangenehmen Entzugserscheinungen.
Entzugserscheinungen, die kennt auch Capital Bra. Lange habe STRG_F versucht, ein Interview mit dem Rapper zu arrangieren. Nachdem die STRG_F-Reportage über „Tilidin“ online ging, hat sich der in Deutschland meistgestreamte Interpret aller Zeiten plötzlich doch noch gemeldet. Offenbar spürte Capital Bra eine gewisse Verpflichtung, sich zu dem zu äußern, was er mit seinen Songs über Tilidin bei manchen Fans ausgelöst hat.
Auf die Frage, warum er über Tilidin rappt, antwortete er: „Weil es ein Teil von meinem Leben war.“ Mit 15 habe er angefangen zu konsumieren. Damals hing er mit seinen Kumpels in Berlin-Hohenschönhausen ab. Irgendwie mussten sie den Tag rumbringen. „Einer holt Gras, einer holt Tilidin, man chillt so halt den ganzen Tag. […] Jeden Tag von vorne.“
Als er dann plötzlich ein Rapstar war, habe ihm Tilidin geholfen, sich zu beruhigen. Andere hätten es genommen, um sich zu prügeln, weil sie dann keine Schmerzen spüren. „Wir haben es genommen, um klarzukommen. Alles ist zu viel, jeder macht ein Foto, der das, hin und her so.“ Aber er habe auch gemerkt, wie es ihn kaputt macht. Wenn er kein Tilidin genommen hat, kamen die Entzugserscheinungen. „Dann sitzt du da wie so ein vercrackter Junkie,“ erzählt der Rapstar bemerkenswert offen.
Eines Tages habe er den Entschluss gefasst, damit aufzuhören. Wegen seiner Familie, seinem Kind. Er wollte sein Kind auch mal von der Kita abholen, ohne benebelt zu sein. Den Entzug hat er als schlimm erlebt. „Die ersten zwei Tage denkst du, es ist schlimm, aber danach wird’s schlimm. Einen Monat, wenn du durchhältst, dann hast du es geschafft. Man hat’s auch öfter probiert und nicht geschafft.“
Ob Tilidin zum Rap gehört, wird Capital Bra im Interview gefragt. Doch der Rapper stellt ganz klar fest: „Tilidin gehört eigentlich nicht zum Rap. Es hat eigentlich gar nichts mit Rap zu tun. Wir haben darüber gerappt, weil es einfach da war.“ Er habe den Konsum von Tilidin nie als cool darstellen wollen. Heute schäme er sich dafür. An seine Fans gerichtet hat er noch eine Botschaft: „Es ist auf jeden Fall nichts Cooles. Macht‘s auf jeden Fall nicht! Ihr kommt uns damit nicht näher.“ Oder wie der Rapper Bonez MC es ausdrückt: „Kipp das Tilidin weg.“
Es gibt Deutschrapper, die den Konsum des Schmerzmittels Tilidin in ihren Songs erwähnen. Vor allem Capital Bra und Samra haben Tilidin als Lifestyle-Droge gefeiert. Der eine oder andere Fan hat sich daran womöglich ein Vorbild genommen. Doch das verschreibungspflichtige Opioid macht körperlich und seelisch abhängig. Der Ausstieg ist mit sehr unangenehmen Entzugserscheinungen verbunden.
In einem Interview hat der Rapper Capital Bra offen über seine Tilidin-Sucht gesprochen. Angefangen habe er mit 15 Jahren. Aus Langeweile hätten er und seine Kumpels ihre Tage mit dem Konsum von Drogen bestritten. Als er dann Rapstar war, habe Tilidin im geholfen, zu entspannen. In seinen Songs habe er den Konsum von Tilidin verarbeitet, weil die Droge Bestandteil seines Lebens war. Heute schäme er sich dafür. Er habe auf keinen Fall dazu auffordern wollen, es ihm gleich zu tun.
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