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April 2021
Vergleichsweise viele Menschen mit psychischen Erkrankungen sind abhängig von Cannabis. Könnte chronisches Kiffen womöglich eine Ursache für psychische Erkrankungen sein oder ist es andersherum?
Bild: Bruno Giuliani / photocase.de
„Ich habe nichts mehr auf die Reihe gekriegt und fühlte mich vom Alltag überfordert.“ Eine ehemalige Teilnehmerin des Beratungsprogramms Quit the Shit berichtet davon, wie ihr das Kiffen die Kraft genommen habe, ihren Alltag zu meistern. Bevor sie angefangen hat, exzessiv Cannabis zu konsumieren, habe sie solche Probleme nicht gekannt. Eine andere Teilnehmerin beschreibt, wie sie sich „jeden Tag, der sich in Rauch auflöste, schlechter und wertloser gefühlt“ habe. Beide haben das Kiffen aufgegeben, weil sie das Gefühl hatten, dass Cannabis ihnen die Lebensenergie raubt.
Viele der meist täglich kiffenden Teilnehmerinnen und Teilnehmer von Quit the Shit haben den Eindruck, dass sich Cannabiskonsum ungünstig auf ihre psychische Gesundheit auswirkt. Die Weltgesundheitsorganisation definiert psychische Gesundheit als einen „Zustand des Wohlbefindens, in dem eine Person ihre Fähigkeiten ausschöpfen, die normalen Lebensbelastungen bewältigen, produktiv arbeiten und einen Beitrag zu ihrer Gemeinschaft leisten kann.“ Psychische Störungen wirken sich hingegen negativ auf das Wohlbefinden und die Leistungsfähigkeit einer Person aus.
Depressionen zählen zu den häufigsten psychischen Störungen. In Deutschland hat fast jede zehnte Person über 15 Jahren schon mal depressive Symptome erlebt. Insbesondere Jugendliche und junge Erwachsene leiden vergleichsweise häufig unter depressiven Symptomen.
Welchen Beitrag leistet Cannabis zum Auftreten von Depressionen? Cannabis ist die am weitesten verbreitete illegale Droge in Deutschland wie auch in vielen anderen Ländern der Welt. Zwischen den Auswirkungen chronischen Kiffens und den Symptomen einer Depression scheint es durchaus Überschneidungen zu geben. So gehen beide Phänomene oft einher mit einer allgemeinen Lustlosigkeit und dem Gefühl, wenig Energie zu haben.
Studien zeigen auf, dass vergleichsweise viele vor allem junge Menschen mit einer psychischen Erkrankung Cannabis konsumieren. Beispielsweise hat eine Studie aus Kanada mit Schülerinnen und Schülern der 7. und 8. Klasse zeigen können, dass Jugendliche mit Cannabiserfahrung ein 6,5-fach höheres Risiko für bestimmte Formen psychischer Erkrankungen haben, darunter Depressionen und Angststörungen.
Zwar gab es in der Vergangenheit auch Studien, in denen Cannabis nicht als Auslöser für Depressionen gesehen wurde, sondern andere Faktoren wie Verhaltensprobleme in der Kindheit entscheidend seien. Aktuelle Übersichtsarbeiten legen jedoch nahe, dass Cannabiskonsum auch unabhängig von anderen Einflüssen das Risiko für Depressionen erhöht, und zwar in einer dosisabhängigen Beziehung: Je mehr gekifft wird, desto wahrscheinlicher werden depressive Symptome. Auch gibt es Hinweise auf einen bedeutsamen Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und Angststörungen wie der sozialen Phobie. Ist Cannabiskonsum womöglich eine Ursache für psychische Erkrankungen?
In einer aktuellen Studie mit umfangreichen Daten aus den USA wurde diese Frage untersucht. Albert Reece und Gary Hulse sind dem Zusammenhang zwischen Cannabiskonsum und psychischen Erkrankungen mit Hilfe komplexer Analysen auf den Grund gegangen. Grundlage ihres Forschungsansatzes bildeten Daten, in denen sowohl regionale Unterschiede als auch der zeitliche Verlauf beider Phänomene miteinander verknüpft wurden.
Die Forscher haben Geodaten untersucht, die als „Shapefiles“ bezeichnet werden. Darin werden die USA in bis zu 395 Regionen aufgeteilt. Die herangezogenen Shapefiles enthielten Informationen zur regionalen Verteilung von psychischen Erkrankungen aus den Jahren 2010 bis 2012 sowie 2014 bis 2016. Diese Daten haben die Forscher mit den jährlich erhobenen Zahlen zur Verbreitung des Cannabiskonsums in den USA zusammengebracht.
Die Analysen haben aufgedeckt, dass die Verteilung psychischer Erkrankungen bedeutsam mit der Verbreitung des Cannabiskonsums in Zusammenhang steht. Je mehr in einer Region gekifft wird, desto häufiger wurden Depressionen, Suizidgedanken und andere psychische Erkrankungen diagnostiziert. Dieser Zusammenhang war besonders stark in Bundesstaaten, in denen Cannabiskonsum zu Freizeitzwecken legalisiert wurde.
Ihre Ergebnisse lassen nach Einschätzung von Reece und Hulse den Schluss zu, dass Cannabis ursächlich zur Verbreitung psychischer Erkrankungen beiträgt. Diese Schlussfolgerung sei aus ihrer Sicht auch deshalb plausibel, weil Cannabis über verschiedene neurobiologische Wege nachhaltig negative Effekte auf das Nervensystem haben könne.
In der Forschung gibt es allerdings auch Hinweise, dass psychische Erkrankungen selbst Risikofaktoren sind, die zu verstärktem Cannabiskonsum beitragen. Manche Konsumierende nehmen Cannabis ein, um sich Linderung von verschiedenen psychischen Beschwerden wie Angststörungen oder auch Depressionen zu verschaffen. Wie passt das zusammen? Wie lässt sich erklären, dass Cannabis einerseits psychische Erkrankungen auslösen kann, andererseits Menschen mit psychischen Erkrankungen zu Cannabis greifen, weil sie sich eine Verbesserung ihrer Symptomatik davon versprechen?
Ein kanadisches Forschungsteam um Studienleiter Tony George hat sich in einer Übersichtsarbeit mit dieser Frage befasst. Demnach scheinen sich Konsumierende nach und nach in eine Art Teufelskreis zu begeben. Dabei spielen die Motive eine wichtige Rolle.
Wer anfängt, Cannabis zu konsumieren, will vor allem eines: sich high fühlen. Personen mit psychischen Problemen genießen aber nicht nur den schönen Rausch, sie machen auch die Erfahrung, dass sie ihre Sorgen und Probleme für eine Weile vergessen. Allerdings nur für eine Weile. Lässt die Wirkung nach, gewinnen depressive Symptome oder Ängste wieder die Oberhand, was wiederum den Wunsch nach erneutem Konsum aufflammen lässt. Personen mit psychischen Problemen sind daher besonders gefährdet, eine Cannabisabhängigkeit zu entwickeln.
Die Motive für das Kiffen zielen bei Cannabisabhängigen immer mehr darauf ab, das eigene Befinden zu regulieren. Es geht nicht mehr nur um das High-Gefühl, sondern darum, unangenehme Gefühle und Entzugssymptome zu dämpfen. George und sein Team sprechen von einem „dysfunktionalem“ Bewältigungsverhalten.
Aus der Perspektive Konsumierender lockt der Konsum zwar mit Entspannung und angenehmen Gefühlen. Bei häufigem Konsum finden jedoch neurobiologische Anpassungsprozess statt, die zur Folge haben, dass das „High“ sich nicht mehr so intensiv anfühlt wie noch zu Anfang. So stellte eine ehemalige Teilnehmerin von Quit the Shit fest: „Es war kein High mehr, sondern nur noch der normale Zustand.“
In der Psychologie wird dieser Mechanismus als „negative Verstärkung“ bezeichnet. Verstärker sind Reize oder Ereignisse, die ein bestimmtes Verhalten fördern. Die Wirkung von Cannabis ist so ein Verstärker, der das Konsumverhalten fördert. Bei psychisch kranken Menschen beruht die negative Verstärkung darauf, dass die unangenehmen Symptome der Krankheit zumindest für eine Weile verschwinden.
Problematisch an dieser Form der „Selbst-Medikation“ ist die Anpassung des Organismus an den Dauerkonsum. Nicht nur fühlt sich der High-Zustand nicht mehr so an, wie noch zu Anfang. Auch das allgemeine Befinden, also der Zustand, wenn die Person nicht berauscht ist, pendelt sich auf einem niedrigeren Niveau ein. Die Folge: Betroffene fühlen sich im nüchternen Zustand zunehmend schlechter, kiffen aber weiter, um sich zumindest kurzfristig etwas Erleichterung zu verschaffen. Aufrechterhalten wird dieser Teufelskreis durch die Überzeugung, dass ihnen die Droge immer noch hilft, obwohl es ihnen auf lange Sicht immer schlechter geht.
Nach Einschätzung von Tony George und seinem Team würde die Tatsache, dass Cannabis auch als Medizin verschrieben werden kann, zu der Problematik beitragen. Cannabis werde oftmals einseitig als „gute Droge“ wahrgenommen. Negative Auswirkungen des Dauerkonsums würden hingegen ausgeblendet. Zwar gibt es nach Aussagen von George und seinem Team durchaus Erkrankungen, bei denen Cannabis einen Nutzen haben könne, bei psychischen Problemen wie Depressionen oder Angststörungen sei der Schaden des Dauerkonsums aber weitaus größer als der mögliche Nutzen.
Viele Menschen mit einer psychischen Erkrankung konsumieren Cannabis. Studien legen den Schluss nahe, dass insbesondere starker Cannabiskonsum ursächlich das Risiko für psychische Erkrankungen wie Depressionen und Angststörungen erhöhen kann. Gleichzeitig sind psychische Erkrankungen selbst ein Risikofaktor für die Entwicklung einer Cannabisabhängigkeit. Betroffene konsumieren Cannabis, um sich Linderung zu verschaffen. Langfristig verschlimmern sie damit allerdings nur ihr Leiden.
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