Topthema

Abhängig aufgrund der Gene?

Juni 2012

Dick, dünn, blond, braun, klein, groß - abhängig, clean? Gene bestimmen nicht nur unser Aussehen, sie haben auch Einfluss auf unser Verhalten. Doch welchen Einfluss haben die Gene tatsächlich? Wie beeinflussen sie unser Verhalten und unsere Persönlichkeit? Hängt es womöglich von den Genen ab, ob jemand drogenabhängig wird?

Ausdruck einer Gensequenz - Buchstaben GTCA

Bild: alanphillips / istockphoto.com

Können wir über unser Verhalten frei entscheiden? Gibt es den freien Willen oder hängt doch alles nur von den Genen ab? Ist womöglich eine Drogenabhängigkeit unweigerlich in der genetischen Ausstattung einprogrammiert? „Ich entscheide, was ich tue und was nicht“, mag der eine oder die andere jetzt spontan antworten. Doch die Wissenschaft hat in den letzten Jahren Belege dafür hervorgebracht, dass das Verhalten - und dazu zählt auch der Konsum von Drogen - offenbar zumindest teilweise von den Genen abhängig ist. Wann welche Gene das Verhalten steuern, scheint jedoch auch von den Umweltbedingungen abzuhängen.

Um es vorweg zu nehmen: Niemand wird ausschließlich wegen seiner Gene drogenabhängig. Genauso wenig entscheidet das Lebensumfeld zu 100 Prozent darüber, ob jemand dem Suff verfällt oder kokst bis zum Umfallen. Beides - Gene und Umwelt - haben ihren Einfluss auf unser Verhalten, das wir willentlich steuern. Die Wahrheit liegt, wie so oft, irgendwo dazwischen. Der US-amerikanische Wissenschaftler Kenneth Kendler hat zusammen mit seinem Forschungsteam den aktuellen Stand der Wissenschaft hierzu gesichtet und versucht, das komplexe Zusammenspiel zwischen Genen und Umwelt zu entwirren. In einem ersten Fazit kommt er zu der Feststellung, dass je nach Studie und untersuchter Substanz der Anteil der Gene an dem Risiko, eine Substanzabhängigkeit zu entwickeln, zwischen 40 und 70 Prozent zu liegen scheint. Doch wie ist es überhaupt möglich den Anteil und die Relevanz der Gene oder eben der Umwelt bei der Entstehung einer Abhängigkeit zu bestimmen?

Zwillinge geben Aufschluss

Um diese Frage zu beantworten untersuchen die Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler vor allem Zwillinge oder Adoptivkinder. Zwillinge können aufgrund ihrer beinahe identischen genetischen Ausstattung Aufschluss darüber geben, ob bestimmte Aspekte von den Eltern an ihre Kinder vererbt werden. Treten zum Beispiel bestimmte Krankheiten sehr häufig bei beiden Zwillingen auf, könnte daraus geschlossen werden, dass diese Krankheit vor allem genetisch bedingt ist.

Studien mit Adoptivkindern hingegen untersuchen die Entwicklung von Kindern, die mit genetisch vollkommen anders ausgestatteten Eltern und gegebenenfalls auch Geschwistern in einem bestimmten Umfeld aufwachsen. Entwickeln adoptierte Kinder, deren leibliche Eltern drogenabhängig sind, selbst keine Abhängigkeit, könnte vermutet werden, dass der Einfluss des familiären Umfeldes von besonderer Bedeutung ist.

Wie bereits vorweggenommen wurde, geht die Wissenschaft davon aus, dass sowohl die Gene als auch das Umfeld eine wichtige Rolle bei der Entstehung einer Abhängigkeit spielen. Doch welche Faktoren sind es genau, die schließlich mit einer hohen Wahrscheinlichkeit zu einer Abhängigkeit führen? Hierzu haben Kenneth Kendler und sein Team in einer weiteren Studie die Daten mehrerer nationaler Register in Schweden durchforstet. Von 1961 bis 2001 reichen die umfangreichen Datenbanken. Darin enthalten sind Angaben von über 18.000 adoptierten Kindern und ihren leiblichen Eltern sowie den Mitgliedern der Adoptivfamilien.

Stärkerer Drogenkonsum unter Adoptivkindern

Die Analysen offenbarten, dass der Drogenmissbrauch unter den adoptierten Kindern generell höher war, als in der Allgemeinbevölkerung. Es scheint also, als ob das Umfeld einer Adoptivfamilie oder die Adoption selbst mit einem erhöhten Risiko für Drogenkonsum einhergeht. Allerdings war die Wahrscheinlichkeit für einen Drogenmissbrauch der Adoptivkinder um das Zweifache erhöht, wenn mindestens ein leibliches Elternteil Drogen missbrauchte. Nochmals höher war das Risiko für Adoptivkinder, wenn beide leiblichen Eltern Drogen konsumierten.

Auf Seiten der Adoptiveltern war der Drogenkonsum hingegen nicht relevant. Egal ob die Adoptiveltern Drogen missbrauchten oder nicht - die Wahrscheinlichkeit, dass die adoptierten Kinder im Laufe ihres Lebens Drogen missbrauchten, war davon nicht beeinflusst. Ein starkes Argument also für eine bedeutsame genetische Komponente und gegen den Einfluss des familiären Umfeldes.

Risikofaktoren auf beiden Seiten

Auffallend war allerdings, dass der Drogenkonsum der Adoptivkinder mit dem Konsum ihrer „neuen“ Geschwister eng zusammenhing: Wenn die adoptierten Kinder Drogen konsumierten war das Risiko für die Geschwister, dies ebenfalls zu tun, fast um das Zweifache erhöht. Das heißt zwar nicht zwangsläufig, dass die adoptierten Kinder ihre Geschwister zum Konsum verführt haben. Die Autoren vermuten jedoch, dass die Verfügbarkeit von Substanzen, aber auch der Kontakt mit drogenaffinen Gleichaltrigen einen größeren Einfluss auf den Drogenkonsum hat, als die Weitergabe von Verhaltensweisen von den Adoptiveltern an die adoptierten Kinder.

Das Team um Kenneth Kendler fand bei den leiblichen Eltern weitere Faktoren, die das Risiko für den Drogenkonsum der adoptierten Kinder erhöhten: Ein niedriges Bildungsniveau, Scheidung sowie kriminelle Aktivitäten oder psychiatrische Erkrankungen der leiblichen Eltern waren bedeutsame „genetische Risiken“. Relativ ähnlich waren die „Umweltrisiken“, die im Umfeld des Adoptivkindes die Entwicklung einer Abhängigkeit begünstigten: Scheidung oder vorzeitiger Tod der Adoptiveltern, kriminelle Aktivitäten, Krankenhausaufenthalte wegen Alkohol- oder Medikamentenmissbrauch sowie Drogenkonsum der Adoptivgeschwister.

Interaktion von Umwelt und Genen

Gene und Umwelt können jedoch nicht völlig losgelöst voneinander betrachtet werden. Vielmehr scheinen sie zu interagieren, beeinflussen sich also gegenseitig. Konkret heißt das: Personen mit einem genetischen Risiko reagieren einerseits sensibler auf problematische Umwelteinflüsse, andererseits suchen sie aufgrund ihrer Gene womöglich genau diese problematischen Umfelder auf. Jugendliche freunden sich womöglich bewusst oder unbewusst mit Gleichaltrigen an, die dem Drogenkonsum gegenüber aufgeschlossen sind.

Die Verfügbarkeit spielt ebenso eine Rolle. Es müssen „passende“ Personen und Drogen verfügbar sein, damit das der Person innewohnende genetische Risiko überhaupt erst zum Tragen kommen kann. Kommt die Person mit einem Rauschmittel gar nicht in Kontakt, spielt das genetische Risiko schließlich sogar gar keine Rolle.

Wichtige Umweltfaktoren, die das Risiko für Drogenkonsum erhöhen, sind neben einer geringen elterlichen Fürsorge, die Verfügbarkeit der entsprechenden Substanz sowie substanzkonsumierende Freunde auch gesellschaftliche Aspekte. So konnte beispielsweise in Schweden im Laufe der letzten 50 Jahre ein deutlicher Anstieg an weiblichen Rauchern beobachtet werden. Die zunehmende gesellschaftliche Akzeptanz des Zigarettenkonsums von Frauen hat ein Umfeld geschaffen, in dem die genetische Veranlagung überhaupt erst die Möglichkeit hatte, ihre Wirkung zu entfalten.

Auch in Schulen kann dieses Phänomen beobachtet werden. Dort ist die Raucherquote deutlich höher, wenn die beliebtesten Schülerinnen und Schüler rauchen. Durch die soziale Akzeptanz kommt die genetische Veranlagung also leichter zum Tragen. Ist hingegen keine genetische Veranlagung vorhanden, ist die Gefahr auch bei entsprechend riskanten Umweltbedingungen deutlich geringer, zur Droge zu greifen bzw. von ihr abhängig zu werden.

Einflüsse sind altersabhängig

Um es noch weiter zu verkomplizieren: Laut Kenneth Kendler und seinem Team scheint sowohl der Einfluss von Genen als auch der von Umweltbedingungen vom Alter abhängig zu sein. Während in der Pubertät vor allem das Umfeld der Personen darüber entscheidet, ob und wie häufig Drogen konsumiert werden, nimmt die Bedeutung der Gene mit dem Älterwerden zu. Das liegt vermutlich an der zunehmenden körperlichen Empfänglichkeit für die jeweilige Belohnungswirkung der Substanz.

Der Einfluss von Umweltfaktoren scheint zudem bei bestimmten Substanzen größer oder anders geartet zu sein als bei anderen. Das Umfeld spielt beispielsweise beim Konsum von Cannabis eine größere Rolle als beim Alkoholkonsum: Während Alkohol in den meisten Fällen relativ problemlos zu beschaffen ist, sind im sozialen Umfeld beispielsweise spezielle Quellen nötig um an Cannabis oder Kokain zu gelangen.

Molekulargenetik legt biologische Vorgänge offen

Zumindest bei einigen Substanzen scheint die genetische Ausstattung tatsächlich einen direkten Einfluss zu haben. Mit Hilfe der Molekulargenetik haben es verschiedene Teams von Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern bereits im Jahr 2007 geschafft, unter den etwa 22.500 menschlichen Genen einige bestimmte Gene zu identifizieren, die bei der Entstehung der Nikotinabhängigkeit eine zentrale Rolle spielen. Raucher, die einen bestimmten Typ des Gens hatten, rauchten deutlich mehr, als Raucher mit anderen Varianten dieses Gens. Nachdem sie diese entsprechende Genvariante gefunden hatten, konnten die Forscherinnen und Forscher auch die biologischen Mechanismen genauer studieren, die letztlich zur Entwicklung einer Abhängigkeit führen.

Sie konnten nachweisen, dass dieses spezielle Gen direkten Einfluss auf die Funktionsweise nikotinerger Rezeptoren hat, also solche Rezeptoren, die im menschlichen Körper sensibel auf Nikotin reagieren. Personen mit dieser speziellen Variante des Gens rauchten nicht nur deutlich mehr, sie entwickelten auch häufiger Lungenkrebs und andere Lungenerkrankungen, die wiederum durch starkes Rauchen mitverursacht werden. Die gleiche Genvariante stand darüber hinaus auch mit dem Vorhandensein einer Alkohol- oder Kokainabhängigkeit im Zusammenhang. Somit wird deutlich, dass die genetische Ausstattung durch die Beeinflussung biologischer und neurologischer Prozesse direkt den Konsum bestimmter Substanzen fördern kann.

Fazit

Gene und Umwelt interagieren miteinander und beeinflussen sich gegenseitig. Umweltfaktoren spielen offenbar vor allem beim Einstieg in den Konsum eine wichtige Rolle. Vor allem Gleichaltrige sind hier als ein wichtiger Einflussfaktor zu nennen. Die genetische Veranlagung kommt vermutlich erst später zum Tragen. Sie entscheidet mit darüber, ob eine Person eine Vorliebe für eine Droge entwickelt, was langfristig die Abhängigkeitsgefahr erhöht.

Dennoch sind wir unseren Genen nicht schutzlos ausgeliefert. Durch bewusstes Reflektieren unseres Verhaltens können wir in das Wechselspiel von Genen und Umwelt eingreifen. Eine Verhaltensänderung wie beispielweise die Abstinenz von bestimmten Substanzen mag für bestimmte Menschen schwieriger sein als für andere, aber unerreichbar ist sie sicherlich nicht.

Quellen:


Kommentare

Kommentare

Um Kommentare schreiben zu können, musst du dich anmelden oder registrieren.